Der Engelmacher
würden. Aber sie hatte kaum etwas über die Frau in Erfahrung bringen können. Der Doktor hatte in all den Jahren nur ein einziges Mal etwas preisgegeben, nämlich dass er wenig über sie wisse. Das war alles, aber natürlich hatte es sie sehr überrascht und auch nachdenklich gestimmt. Vielleicht, so hatte sie überlegt, war die Mutter von Michael, Gabriel und Raphael gar nicht tot. Vielleicht war sie noch nicht einmal mit dem Doktor verheiratet gewesen, vielleicht waren die Kinder nur das Ergebnis eines Flirts. Sie hatte darüber mit Hannah Kuijk gesprochen, und die hatte noch schlimmere Vermutungen angestellt. »Ein sexueller Übergriff!«, hatte Hannah gesagt. Vielleicht war etwas vorgefallen zwischen dem Doktor und einer Patientin. Und vielleicht hatte er deshalb eine Stadt wie Bonn gegen ein Dorf wie Wolfheim eingetauscht. Die Frau hatte Klage eingereicht, und damit war sein Name besudelt. Und wahrscheinlich wollte sie die Kinder nicht haben, weil sie so – »Verzeih mir das Wort«, hatte Hannah gesagt – hässlich waren. Für den Doktor waren sie also ein Schandfleck, und darum konnte er sie auch nicht so lieben, wie es sich für einen Vater gehörte.
An diese Worte musste Frau Maenhout zurückdenken, als sie im Sprechzimmer vor dem Regal mit Fotoalben stand, völlig unvorbereitet auf das, was sie zu sehen bekommen würde. Sie hatte wahrlich mit etwas ganz und gar anderem gerechnet.
Sie brauchte einen Augenblick, bis sie es begriffen hatte. Sie hatte einfach das erste Album aus der Reihe genommen. »V1« stand in der rechten oberen Ecke. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.
Es waren Polaroidfotos, die der Doktor wahrscheinlich selbst aufgenommen hatte. Unter jedem einzelnen, auf dem weißen Rand, stand ebenfalls »V1«, mit Filzstift geschrieben, und dazu ein Datum aus dem Jahr 1984. Es waren merkwürdige Fotos: eine einzelne Hand, ein Bein, ein Fuß, ein Ohr, ein Nabel. Sie hatte das Album zunächst einfach an ein paar willkürlichen Stellen aufgeschlagen. Dann fing sie von vorne an. Mit der ersten Seite.
Sie erkannte das Baby auf Anhieb. Auf dem ersten Foto lag es nackt auf dem Rücken, auf einem Bett oder einer Bank, das konnte sie nicht genau sehen. Sie wusste nicht, welches der drei Kinder es war, aber dass es eines von ihnen war, wusste sie sofort. Ein Name stand nicht dabei, wohl aber ein Datum: 29.09. 1984. Der Geburtstag der Drillinge. Als nächstes fiel ihr die Hasenscharte im Gesicht auf. Nicht die Narbe, denn die war da noch nicht. Sondern die Wunde. Eine klaffende Wunde.
Dass die Wunde tatsächlich auseinanderklaffte, bestätigte sich auf der nächsten Seite. Es war ein enormer Schock für sie. Genau wie der Doktor Hände, Füße und andere Körperteile von ganz nahe fotografiert hatte, so auch die Hasenscharte.
Sie schnappte nach Luft und schlug das Album mit einem Knall zu. Aber das Bild hatte sich in ihre Netzhaut eingebrannt.
Dann nahm sie das nächste Album zur Hand. »V2« stand auf dem Einband. Sie schlug es an verschiedenen Stellen auf und wusste sofort, dass die Fotos dieselben waren wie in dem ersten. Dennoch nahm sie auch das nächste aus dem Regal, um erwartungsgemäß die Angabe »V3« darauf zu finden. Und auch hier: Hände, Füße, Beine. Aber auch Brustkörbe, Hinterköpfe, Schultern, Augen … alles.
Alles.
Sie musste sich auf einen Stuhl am Schreibtisch setzen. Ihr war schwindlig.
Sie ließ den Blick über die weiteren Alben gleiten. Zwölf Stück waren es. Eine einfache Rechenaufgabe. Pro Jahr und Kind ein Album.
Aber was konnte sie damit beweisen? Nichts. Zu diesem Schluss war sie im Laufe des Vormittags gekommen. Nachdem sie ihre Entdeckung gemacht hatte, hatte sie aufgehört zu suchen und war zu den Kindern ins Schlafzimmer gegangen, die noch immer friedlich im Bett lagen. Sie war nicht lange bei ihnen geblieben, weil sie in ihrer Gegenwart nicht nachdenken konnte. Sie hatte sie betrachtet, und dabei waren vor ihrem inneren Auge ständig die Fotos vorbeigeflitzt.
Unten hatte sie ein paar Mal den Telefonhörer abgenommen, um Hannah anzurufen, es dann aber immer wieder verschoben. Sie wollte erst sehen, ob sie nicht selbst eine Lösung fand. Schließlich hatte sie doch angerufen, aber es hatte niemand abgenommen.
Sie hatte Suppe gekocht, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie hatte abgewaschen. Gebügelt. Ihr war beklommen zumute gewesen. Was konnte sie tun? Was musste sie tun? Sie war ratlos. Sie hatte geweint.
Schließlich war sie ins
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