Der Engelmacher
kurz darauf. »Euer Auftrag ist vollbracht. Wir müssen jetzt schnell zurück nach Hause.«
»Nur ein Mal noch, Frau Maenhout, nur noch ein einziges Mal«, flehte Athos.
»Na gut, ein letztes Mal.«
Langsam, ganz langsam liefen sie nun um den Pfahl herum, der das Dreiländereck markierte, und dabei streckten sie jeweils einen Arm oder ein Bein weit aus, sodass sie in zwei Ländern zugleich stehen konnten. So hatten die Schüler aus ihrer Klasse es früher auch gemacht. In dieser Hinsicht waren Michael, Gabriel und Raphael nicht anders als andere Jungen. In dieser Hinsicht nicht. Der Gedanke war ihr ganz plötzlich gekommen, und mit ihm war das bange Gefühl zurückgekehrt. Kurz war es verschwunden gewesen, jetzt aber umso heftiger zurückgekehrt.
Auch auf dem Rückweg, den Vaalserberg hinunter, ließ es sie nicht los. Sie stellte sich vor, wie es nun bald sein würde. Einsam. Sie würde einsam sein. So wie früher, wie immer, seit sie in Rente gegangen war – bis sie die Drillinge kennengelernt hatte. Einsam. Das Wort hing an ihr wie eine Klette.
»Kommt, Jungs, immer schön bei mir bleiben.« Sie waren etwa fünf Minuten unterwegs, und Raphael und Gabriel liefen ein paar Meter hinter ihr. Sie sah sich nach Michael um, und fast blieb ihr das Herz stehen. Von Michael war keine Spur zu entdecken.
»Wo ist Michael?« Ihre Stimme klang dünn. Gabriel und Raphael sahen sich nun ebenfalls um. Sie hatten auch nicht bemerkt, dass ihr Bruder verschwunden war.
»Michael! Michael!«, begann Frau Maenhout zu rufen.
Aber es kam keine Antwort. Sie nahm Gabriel und Raphael auf den Arm und fing an zu laufen, zurück nach oben, zum Dreiländereck. Ihr ungutes Vorgefühl erwies sich schon bald als begründet.
Michael war auf dem Turm. Er hatte schon etwa zwanzig Stufen erklommen und stieg mit starr nach oben gerichtetem Blick immer weiter hinauf. Fast schien es, als folgten ihm die Scheinwerfer vom Boden aus mit ihren hellen Strahlen.
»Michael, komm da runter!«
Sie setzte Gabriel und Raphael auf dem Boden ab. Michael sah sich kurz um und winkte seinen Brüdern mit dem Schwert zu.
»Ich erobere Aachen und Vaals! Und Lüttich! Und danach klettere ich in den Himmel hinauf!« Damit wandte er seinen Blick erneut nach oben und hielt sein Schwert hoch in die Luft. Unbeirrt erklomm er weitere Stufen.
Frau Maenhout hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Michael, komm jetzt sofort da runter!«
»Ich bin nicht Michael!«, hörte sie ihn rufen. »Ich bin Athos, der tapferste der drei Musketiere.« Sein Umhang flatterte im Wind.
»Michael, komm zurück!«
»Athos! Ich heiße Athos!«
»Michael, hör jetzt auf! Jetzt ist langsam Schluss mit lustig!«
Aber für Michael war das Ganze kein Spaß. Im Augenblick war er von Kopf bis Fuß Athos, der tapferste der drei Musketiere. Und nur als Athos wagte er sich so hoch hinaus, nicht als Michael. Das wurde Frau Maenhout nun plötzlich klar.
»Athos!«, rief sie. »Athos! Hör auf damit! Komm sofort runter! Athos!«
Ihre Stimme hallte laut in seinem Rücken wider. Kurz zögerte er, ganz kurz nur, doch dann rief er zurück: »Musketiere müssen nur auf Gott und den König hören! Das haben Sie selbst gesagt!«
Für einen kurzen Augenblick sah er nach unten. Er befand sich in einer Höhe von etwa zehn Metern, höher als er je zuvor gewesen war. Er erschrak und wich zurück. Das sah Frau Maenhout. Das sahen seine beiden Brüder. Dann verlor er das Gleichgewicht. Ein Schrei erklang. In einem Reflex ließ er sein Schwert los. Es fiel herunter. Mit einem trockenen Knacken sprangen der Schaft und die Klinge auseinander, als es auf dem Beton auftraf.
Es war Viertel vor sieben, als Felix Glück beim Haus von Otto Reisiger an der Albertstraße 17 in Wolfheim klingelte.
»Herr Reisiger, da sitzt ein Kind auf dem Turm und kommt nicht mehr herunter!«, rief er, als ein kugelrunder Kopf in einem der oberen Fenster erschien.
»Was!?«, war daraufhin zu hören. »Wie ist denn das möglich? Moment, ich komme! Einen Augenblick!«
Felix Glück, der in Aachen eine Autowerkstatt hatte, war in der frühen Dämmerung zum Dreiländereck gejoggt und hatte dort zu seinem Erstaunen auf einer Bank nahe dem Turm eine Frau mit zwei Kindern sitzen sehen. Alle drei hatten sie die Köpfe in den Nacken gelegt und die Hände gefaltet. Es sah fast aus, als wären sie ins Gebet vertieft. Die etwas ältere Frau, die ihre grauen Haare zu einem Dutt zusammengebunden hatte, hatte auch
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