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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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warum sie das plötzlich fragte. Vielmehr, sie wusste es sehr wohl, aber sie wollte es sich nicht eingestehen.
    Sie hatte Angst.
    Sie ging zu den Schulbänken, wo die drei Kinder bereits die Hände gefaltet hatten. Unten im Flur waren Stimmen zu vernehmen.
    »Vater unser …«, fing sie an.
    »Ein Kreuzzeichen«, unterbrach Raphael sie, »wir müssen doch erst ein Kreuzzeichen machen.«
    »Da hast du Recht«, sagte sie und hob die rechte Hand an die Stirn.
    »Im Namen des Vaters …«
    Halb flüsternd sprachen die Kinder ihr die Worte nach, wie sie es ihnen beigebracht hatte. Sie schloss die Augen und lauschte dem eintönigen Singsang der Jungen.
    »Vater unser, der du bist im Himmel …«
    Sie würde sich nicht alles bieten lassen. Das nahm sie sich vor. Sie würde sich verteidigen. Sie würde ihm sagen, dass es seine eigene Schuld war. Das war es schließlich auch.
    »… vergib uns unsere Schuld …«
    »Danke, Herr Reisiger«, hörte sie den Doktor sagen, »und bis bald!«
    Die Kinder beteten unbeirrt weiter.
    »… führe uns nicht in Versuchung …«
    Unten fiel die Haustür ins Schloss.
    »… sondern erlöse uns von dem Bösen. Amen.«
    Dann hörte sie den Doktor die Treppe heraufkommen. Sie entschied sich, ihm entgegenzugehen. Sie wollte nicht, dass die Kinder die zu erwartende Szene mitbekämen.
    »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu ihnen. Sie hatten gerade die Hand erhoben, um sich zu bekreuzigen.
    »Die andere Hand«, sagte sie noch schnell zu Michael, bei dem sie wieder die linke sah.
    Dann lief sie zur Tür. Alle Spannung schien in ihren Händen zusammengeströmt zu sein, sie konnte die Finger nicht mehr stillhalten. Als würde sie etwas in den Händen zermahlen. Draußen erhob sich wieder das Getöse von Herrn Reisigers Auto. Diesmal war es kein lautes Gebrumm oder Rumoren, sondern eher ein hohes, schleifendes Gejaule, das allerdings nur kurz anhielt. Sie trat aus dem Raum auf den Flur hinaus und blieb auf dem Treppenabsatz stehen.
    Der Doktor war gerade oben angekommen. In der Hand hielt er das Holzschwert. Schnell sah sie ihm ins Gesicht, um zu sehen, in welcher Stimmung er war, aber auch jetzt verrieten seine Züge nichts.
    »Herr Reisiger …«, setzte er an.
    Plötzlich drang wieder der durch Mark und Bein gehende Autolärm zu ihnen. Der Doktor unterbrach sich kurz und wiederholte dann: »Herr Reisiger hat das Schwert zurückgebracht. Er erzählte …«
    »Es ist Ihre Schuld«, unterbrach sie ihn.
    Sie verkrampfte die Hände ineinander. Sie würde sich verteidigen. Das hatte sie sich vorgenommen, und dabei würde sie auch bleiben.
    »Was?«
    Er spielt mir was vor, dachte sie. Er versucht, seine Hände in Unschuld zu waschen.
    »Es ist Ihre Schuld, dass es so weit gekommen ist«, sagte sie.
    Er senkte den Kopf.
    »Das ist nicht wahr«, sagte er. »Es ist nicht meine Schuld.«
    »Was?«, rief sie, erstaunt und wütend zugleich.
    Er schüttelte den Kopf, während er weiter zu Boden sah.
    »Ich habe getan, was gut war. Ich habe immer nur getan, was gut war. Ich habe das nicht gewollt.«
    Er faselt vor sich hin, dachte sie, fast, als hätte er getrunken.
    Seltsam unkoordiniert ließ er den Kopf weiter hin und her baumeln. Von draußen erklang noch einmal das Jaulen des Autos, aber Doktor Hoppes Stimme übertönte es.
    »Er hat es so gewollt. Er. Ich habe versucht, es zu verhindern. Ich habe es versucht. Aber …«
    Er strich mit der Hand über die hölzerne Klinge des Schwerts und kam einen Schritt näher. Es sah fast aus, als wanke er.
    »Ich wollte das Gute tun. Ich habe immer das Gute tun wollen.«
    Chaos und Betrug. Die Worte kamen ihr immer wieder in den Sinn. Und jetzt war der Moment, sie auszusprechen: »Chaos und Betrug.« Sie tat ein paar Schritte beiseite, vergrößerte den Abstand zu ihm. »Chaos und Betrug. Das hat man Ihnen vorgeworfen. Sie haben alle betrogen. Immer schon. Früher. Und auch jetzt.«
    Draußen war im selben Augenblick ein großer Knall zu hören. Sie erschrak, aber der Doktor schien das Geräusch nicht zu bemerken.
    »Das dürfen Sie nicht sagen. Das sollten Sie nicht sagen.«
    Er war noch einen Schritt auf sie zugegangen. Sie trat einen zurück. Sie spürte, dass sie einen schwachen Punkt bei ihm erwischt hatte und fuhr fort: »Sie können die Wahrheit nicht ertragen. Sie wagen es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie haben sich selbst überschätzt.«
    »Das dürfen Sie nicht sagen«, wiederholte er. Er schüttelte noch heftiger den Kopf. Ein Kind, das bei etwas

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