Der Engelmacher
gar kein Riese. Der ist doch noch viel zu klein«, hatte Gabriel gerufen.
»Malt das jetzt trotzdem einfach mal ab.«
Sie hatte selbst gemerkt, dass sie an jenem Vormittag etwas ungeduldig war. Sie war natürlich nervös. Ständig hatte sie auf die Uhr gesehen. Auf den Nägeln gekaut. Das Fenster gekippt und jedes Mal, wenn draußen ein Auto langsamer fuhr, die Luft angehalten.
Etwa gegen fünf Uhr nachmittags hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte angefangen, den Drillingen ein paar Fragen zu stellen. Sie hatte sie vorbereiten wollen. Sie hatte nicht gesagt: »Angenommen, irgendjemand fragt euch demnächst …«
Sondern sie hatte ganz direkt gefragt: »Wie findet ihr euren Vater?«
»Der ist komisch.«
»Warum?«
»Er macht komische Sachen.«
»Was für Sachen denn?«
»Mit Nadeln. Er sticht uns mit Nadeln. Mit so langen.«
»Und sonst?«
Sie hatten kurz nachgedacht, aber sonst war ihnen nichts eingefallen. Da war ihr klar geworden, dass es sonst nichts gab. Von alledem, was sie ihm vorwarf, war wenig greifbar. Insgesamt lief es darauf hinaus, dass er verantwortungslos mit seinen Kindern umging. Unmenschlich sogar. Das war es. Aber wie sollte sie das beweisen? Er war nie in Raserei verfallen. Er hatte ihnen nie auch nur einen Klaps auf den Hintern gegeben. Eigentlich hatte er sie lediglich ärztlich untersucht, das allerdings fortwährend. Ansonsten hatte er sie fast nie außer Haus gelassen. Aber war das ein Verbrechen? War das strafbar?
Sie hatte tief geseufzt und versucht, an etwas anderes zu denken. Ihr Kopf war kurz davor zu platzen.
Betrug und Chaos. Darauf musste sie sich konzentrieren.
Als um halb sechs das Taxi vor der Tür anhielt, lief sie zum Fenster. Sie spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Der Doktor stieg aus, und automatisch tat sie einen Schritt zurück, damit er sie nicht sah.
»Euer Vater ist da«, sagte sie zu den Kindern. »Räumt schon mal auf. Er kommt gleich nach oben.«
Aber er kam nicht nach oben.
Sie wartete fünf Minuten. Zehn Minuten. Sie hörte ihn im Sprechzimmer. Wenn er nur nicht merkte, dass sie herumgeschnüffelt hatte. Sie überlegte, ob sie auch alles so hinterlassen hatte, wie sie es vorgefunden hatte.
Warum kam er nicht nach oben? Warum kam er nicht nach dem Rechten sehen?
Also beschloss sie, selbst mit den Jungs nach unten zu gehen und dann sofort zu sich nach Hause. Sie wollte gerade das Fenster schließen, da erregte ein Geräusch von draußen ihre Aufmerksamkeit. Sie sah hinaus. Der Himmel war, von einigen hohen Wolkenschleiern abgesehen, strahlend blau, und doch klang es, als wäre ein Gewitter im Anzug. Sie öffnete das Fenster weiter und lehnte sich hinaus. Das dumpfe Grollen kam vom anderen Ende der Napoleonstraße und wurde rasch lauter. Sie hatte diesen Lärm schon einmal gehört, wusste aber nicht mehr, wann und wo. Der Wind trug das regelmäßig an- und wieder abschwellende Geräusch nun so vernehmbar herüber, als wären viele große, knatternde Motoren im Anzug. Aber es war etwas anderes.
Plötzlich wusste Frau Maenhout es, und im selben Moment wurde sie blass. Als sie sich umdrehte, sah sie an der Art und Weise, wie sie aufblickten, dass auch Michael, Gabriel und Raphael das Geräusch erkannt hatten.
»Das Auto«, sagte Gabriel. »Das ist das Auto von dem Mann.« Seine Stimme ging in dem Lärm, der nun ganz nahe war, fast völlig unter.
Frau Maenhout sagte nichts mehr und horchte konzentriert darauf, was unten vor sich ging. Sie sah auf die Uhr. Es war fast Viertel vor sechs. Otto Reisiger kam wahrscheinlich gerade vom Dreiländereck zurück, wo er bis fünf Uhr die Leute auf den Baudouin-Turm hinaufgelassen hatte. Bestimmt ist er unterwegs in die Albertstraße, dachte sie, er fährt sicher gleich weiter.
Aber er fuhr nicht weiter. Das enorme Getöse des kaputten Auspuffs verstummte vielmehr plötzlich. Frau Maenhout schluckte und spähte durchs Fenster. Der Turmwärter hatte seinen Simca vor dem Haus geparkt und den Motor abgestellt. Er lehnte sich hinüber, nahm irgendetwas vom Beifahrersitz und stieg aus. Knallend schlug er die Autotür zu. In der Hand hielt er das Holzschwert, das er offenbar repariert hatte. Frau Maenhout schlug die Hände vor den Mund und sah, dass er klingelte. Er drückte gegen das Tor, das noch offen stand, und schon kam er den Pfad herauf.
Als sie sich umdrehte und ihr Blick den der Kinder kreuzte, stockte ihr der Atem. »Haben wir heute Nachmittag schon gebetet?«
Sie wusste selbst nicht,
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