Der Engelmacher
Zellkerne war dies ein einfacher Eingriff, fast so, als hätte der Doktor plötzlich ein Tier von der Größe eines ausgewachsenen Pferdes vor sich. Dennoch musste er sich über alle Maßen konzentrieren, weil seine Hände vor Anspannung zitterten.
Die erste der fünf Muttermäuse – um sie auseinanderhalten zu können, hatte er ihr Fell mit unterschiedlich vielen, kleinen Punkten markiert – lieferte nicht das erhoffte Resultat. Im Gegenteil, von den acht Jungen, alles Totgeburten, waren lediglich drei äußerlich als Mäuse zu erkennen. Von den übrigen fünf sahen drei wie schrumpelige Rosinen aus, und zwei erinnerten noch am ehesten an einen bei einer Fehlgeburt tot zur Welt gekommenen Menschenembryo im dritten Monat, nur in verkleinerter Form. Die letzte missgebildete Maus hatte eine Haut, die dünner war als Krepppapier, sodass man sämtliche Eingeweide sehen konnte. Doktor Hoppe war enttäuscht, aber nachdem er die Jungen der ersten Maus in Formalin konserviert hatte, nahm er mit neuer Hoffnung den Kaiserschnitt bei der zweiten Muttermaus vor. Vier der fünf eingepflanzten Embryos waren auch hier tot und außerdem paarweise zusammengewachsen. Die ersten beiden hatten ein gemeinsames Rückgrat, das zweite Paar hing mit dem hinteren Teil des Körpers zusammen. Sein Interesse richtete sich aber sofort auf das fünfte Exemplar, das doppelt so groß war wie die anderen und vor allem: noch lebte! Aber das war auch schon alles – bis auf ein leichtes Zucken der hinteren Pfoten rührte sich das Tier nicht. Schnell nahm der Doktor deshalb eine kleine Pipette und fing an, Luft in die winzige Schnauze zu pumpen.
»Atme! Atme!«, rief er, als spräche er zu einem Menschen.
* * *
»Atme! Atme!«
Der Sprechfehler von Doktor Karl Hoppe war deutlich zu hören, als seine Stimme durch das Haus in der Wolfheimer Napoleonstraße 1 hallte, wo er gerade seiner Frau bei der Geburt eines Sohnes beistand. Es war Montagmorgen, 4. Juni 1945. Die Wehen hatten zwei Tage zuvor eingesetzt. Die Geburt selbst hatte neun Stunden gedauert.
Es war also ein Junge, und er würde Victor heißen. Darauf hatten sie sich schon geeinigt. Das Geschlecht hatte der Vater allerdings erst auf den zweiten Blick festgestellt. Zuerst hatte er das Gesicht des Kindes angesehen. Durch den Film von Schleim und Blut, der den Mund, die Nase und die Wangen bedeckte, hatte er sofort gesehen, was er befürchtet hatte: Das Kind hatte dieselbe Hasenscharte, die er selbst schon von seinem Vater geerbt hatte.
Im Dorf war der Glaube verbreitet, die Missbildung sei darauf zurückzuführen, dass die werdende Mutter in der zehnten Woche ihrer Schwangerschaft einen toten Hasen gesehen hätte. Selbst seine Frau glaubte an dieses Märchen, obwohl er nachdrücklich erklärt hatte, dass die Abweichung im Blut der Familie Hoppe lag, genau wie die rote Haarfarbe, die beinahe jeder ihrer Sprosse mitbekommen hatte. Dennoch hatte sie sich während ihrer gesamten Schwangerschaft nicht in die Metzgerei hineingetraut, und wenn sie notgedrungen am Fleisch im Schaufenster vorbeigegangen war, hatte sie immer starr geradeaus geschaut.
Es hatte nicht geholfen. Das Kind hatte trotzdem eine Hasenscharte. Es war das erste, wonach seine Frau ihn gefragt hatte. Nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, sondern ob das Kind …
Und mit zitternder Hand hatte sie auf ihren eigenen Mund gedeutet, um den sich Schweißperlen gebildet hatten. Er hatte stumm genickt und hinzugefügt, dass es ein Junge war.
Vielleicht brachte sie das auf andere Gedanken. Sie hatte die Augen geschlossen und geseufzt.
Der Junge atmete sehr unregelmäßig und bekam deshalb sofort eine Sauerstoffmaske auf seinen verzogenen Mund gepresst. Alle drei Sekunden kniff Doktor Hoppe in den schwarzen Ballon und pumpte so Luft in die Lungen seines Sohnes.
»Atme! Atme!«, rief er.
Hätte er mit dem Beatmen aufgehört, wäre die Wahrscheinlichkeit groß gewesen, dass das Kind starb, bevor es überhaupt richtig gelebt hatte. Während er mechanisch weiter in den Ballon kniff, fragte sich der Doktor, ob es für den Jungen nicht vielleicht besser wäre, wenn er nicht durchkäme. Der Gedanke quälte ihn. Er hatte schon ein paar Mal dabei geholfen, Kinder mit viel schlimmeren Missbildungen als einer Hasenscharte zur Welt zu bringen, und doch war ihm diese Frage nie in den Sinn gekommen. Immer hatte er um das Leben des Kindes gekämpft, wie man es ihm eingeimpft hatte, aber jetzt, bei seinem eigenen Sohn, seinem
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