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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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erzählt, warum und wie, anderthalb Stunden lang, und er hatte den Eindruck gehabt, dass sie die ganze Zeit über aufmerksam zugehört hatten. Kein einziges Mal hatten sie ihn unterbrochen. Auf diese Art und Weise hatte er sie wieder für sich eingenommen und sie überzeugen können, bis zur nächsten Behandlung noch einen Monat vergehen zu lassen. Sie waren auf Anhieb einverstanden gewesen. Er fand, dass er die Sache vorzüglich geregelt hatte.
    Noch am selben Tag hatte er alles, was er ihnen erzählt hatte, auch schriftlich festgehalten. Nachdem die Frauen die Mäuse gesehen hatten, würde sich die Neuigkeit schnell verbreiten, hatte er gedacht. Er musste also seine Methoden bekannt machen, bevor andere Wissenschaftler in die Welt hinausposaunten, er verbreite Lügengeschichten. Am liebsten hätte er gewartet, bis die Frauen tatsächlich ein Kind zur Welt gebracht hatten, aber nun hatte er keine Wahl mehr.
    Der Artikel hatte sich geradezu von selbst geschrieben. Nur wenige Male hatte er zwischendurch auf seine spärlichen Aufzeichnungen zurückgreifen müssen. Bereits am nächsten Tag hatte er den Text an Science geschickt, wo vor einigen Jahren bereits Teile seiner Examensarbeit veröffentlicht worden waren. Von den jungen Mäusen und den Weibchen, die als Eltern gedient hatten, hatte er Polaroidaufnahmen gemacht, und jede Phase des Teilungsprozesses hatte er mit Mikroskopaufnahmen oder Skizzen dokumentiert.
    Danach schloss er sich wieder in seinem Labor ein.
    * * *
     
    Lotte Guelen war ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs dem Orden der Klarissen in La Chapelle beigetreten. Ihr Vater, Klaas, stammte aus Vaals und war 1928 ins belgische Lüttich verzogen, auf der Suche nach Arbeit in der Kohlenmine. Ein Jahr später hatte er in einem Krankenhaus Marie Wojczek kennengelernt, Krankenschwester und ältestes Kind streng katholischer Migranten aus Polen. Marie war damals neunzehn Jahre alt. Schon nach einem halben Jahr heirateten sie. Das war im März 1930. Mit einem Korsett kaschierte sie unter dem Hochzeitskleid ihren leicht geschwollenen Bauch. Niemand bemerkte etwas. Erst sechs Monate später runzelten sich die Augenbrauen derer, die nachgerechnet hatten. Aber das war alles. Sogar ihre Eltern schwiegen. Vielleicht verflüchtigte sich gerade deshalb bei Klaas und Marie das Schuldgefühl nie ganz.
    Sechzehn Jahre und drei Töchter später tilgten sie die Schuld, indem Lotte ins Kloster von La Chapelle geschickt wurde. Sie wehrte sich nicht. Sie wollte Lehrerin werden und glaubte, das Postulat sei hierzu der erste Schritt. Ihre Eltern hatten ihr allerdings nicht erzählt, dass an das Kloster von La Chapelle gar keine Schule angegliedert war. Sie kam indes schnell dahinter, als die Schwestern sie in der Anstalt in die Arbeit einwiesen. Als Postulantin musste sie bei manchen Patienten die Baumwollwindeln wechseln und bei anderen die Nachttöpfe leeren und ausspülen. Auch die schmutzige Bettwäsche zu erneuern und eiternde Wunden zu verarzten, gehörte zu ihren Aufgaben. Während ihres vorbereitenden Jahres durfte sie zudem kein Wort mit den Patienten wechseln.
    Das vorbereitende Jahr wurde auf beinahe einundzwanzig Monate ausgedehnt. Dann drängten ihre Eltern bei Schwester Milgitha darauf, Lotte zum Noviziat zuzulassen, nachdem ihre Tochter sich bei einem kurzen Besuch zu Hause bereits zum zweiten Mal geweigert hatte, ins Kloster zurückzukehren.
    Die Kutte, die Lotte als Novizin tragen durfte, gab ihr endlich ein Gefühl von Würde, auch wenn sie damit gleich die drückende Hitze des Sommers von 1948 durchstehen musste. Ihre Pflichten blieben dieselben wie zuvor, denn sie war noch immer das jüngste Mitglied des Ordens. Dafür änderte sich jetzt ihr Name. Von nun an hieß sie Schwester Marthe, ein Klostername, den die Äbtissin für sie ausgesucht hatte. Die Heilige Marthe war die Schwester von Maria Magdalena, die immer treu die haushälterischen Aufgaben erledigt hatte, während ihre Schwester Jesus zugehört hatte. Lottes neuer Klostername war Schwester Milgitha zufolge eine Belohnung dafür, dass sie all die Monate so hart gearbeitet hatte.
    Für sie selbst bestand die größte Belohnung darin, dass sie jetzt auch mit den Patienten sprechen durfte. Diese Neuigkeit erfuhr sie tags nachdem Egon Weiss für immer zum Schweigen gebracht worden war. Zweifellos hatte das eine mit dem anderen zu tun, denn da sie nun mit den Patienten sprechen durfte, wurde ihr auch auferlegt, nicht weiterzuerzählen, was diese

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