Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
Vom Netzwerk:
sein sollen, war nun beinahe eine Schmach geworden.
    »Schwester Marthe, ist dir klar, was du da sagst? Der Junge ist noch keine vier Jahre alt!« Sie machte eine kurze Pause. Dann fügte sie mit Nachdruck hinzu: »Und debil.«
    Schwester Marthe schüttelte den Kopf. »Er ist nicht debil. Er ist wirklich nicht …«
    »Das hast du nicht zu beurteilen, Schwester.«
    Die Äbtissin reckte die Nase in die Luft und hatte sich bereits umgedreht, als Schwester Marthe plötzlich ausrief: »Dann kann Victor es ja beweisen!«
    Die Äbtissin antwortete nicht, rührte sich aber auch nicht vom Fleck.
    »Er kann es doch beweisen«, sagte Schwester Marthe, diesmal in flehentlichem Ton.
    »Dann soll er es ruhig jetzt gleich tun! Umso schneller wissen wir Bescheid, nicht wahr, Schwester Marthe?«
    »Nicht jetzt gleich. Nicht …«
     
    Es war noch schlimmer gekommen, als sie erwartet hatte. Schwester Milgitha hatte ihm nicht die geringste Chance gegeben. Zu fünft hatten die Schwestern um ihn herum gestanden, so wie sie es auch machten, wenn einer der Patienten in die Zwangsjacke gesteckt werden sollte. Natürlich hatte er Angst gehabt.
    Sie musste hinter den anderen stehen bleiben und hatte nur ganz kurz sein Gesicht gesehen, als Schwester Milgitha einen Schritt zur Seite getreten war. Die Äbtissin hatte auf sie gezeigt und gesagt: »Victor, Schwester Marthe behauptet, du könntest schon lesen. Kannst du uns das mal zeigen?«
    Schwester Marthe hatte sogar noch den Mut aufgebracht, die Äbtissin zu unterbrechen. Aus ihrem Ärmel hatte sie ein Blatt Papier zum Vorschein gebracht, auf dem der Vers stand, den er in der Nacht zuvor noch abgelesen hatte. Auf Anhieb. Und fehlerlos.
    »Schwester Milgitha, dies hier ist …«
    Die Äbtissin hatte mit der Hand hinter ihrem Rücken unwirsch abgewinkt und mit der anderen Hand die Bibel von Schwester Noëlle entgegengenommen. Sie hatte sie willkürlich irgendwo aufgeschlagen und Victor unter die Nase gehalten.
    »Lies mal vor, was da steht«, hatte sie gesagt.
    Das ist deine Chance, Victor, hatte Schwester Marthe noch gedacht. Sie hatte gewusst, dass er es konnte. Und wäre es nur ein einziger Satz.
    Aber Victor hatte geschwiegen.
     
    Und der König sprach: Holet mir ein Schwert her! Und da das Schwert vor den König gebracht ward, sprach der König: Teilet das lebendige Kind in zwei Teile und gebt dieser die Hälfte und jener die Hälfte.
     
    Das hatte dort gestanden. Schwarz auf Weiß. Auf diese Passage war sein Blick gefallen, und es hatte ihm derart die Kehle zugeschnürt, dass er kein Wort herausgebracht hatte.
     
    ***
     
    »Werden wir sehen können, ob das Kind von uns beiden gemeinsam abstammt?«, fragte eine der beiden Frauen.
    Der Doktor hatte gerade durchsichtiges Gel auf ihren Bauch geschmiert, um die erste Ultraschalluntersuchung durchzuführen. Er schüttelte den Kopf. »Nicht auf dem Ultraschall.«
    »Ich meine später, nach der Geburt.«
    »Es wird mit Sicherheit ein Mädchen sein«, antwortete er.
    »Das hat mit den Chromosomen zu tun. Frauen haben ein Geschlechtschromosom vom XX-Typus, und dadurch …«
    »Aber können wir es auch noch an irgendetwas anderem sehen?«, unterbrach sie ihn.
    Über das Geschlecht des Kindes hatte er schon einmal ausführlich Auskunft gegeben, und jetzt fing er wieder von vorne damit an, als wüsste er nicht, dass er sich wiederholte. Damals hatte sie schon so gut wie nichts davon verstanden, aber sie hatte sehr wohl behalten, dass die Geburt eines Mädchens allein noch nicht bedeutete, dass das Kind wirklich von ihnen beiden abstammte. Dieser Zweifel hatte weiter an ihr genagt, obwohl der Doktor ihnen Fotos von der Verschmelzung ihrer Zellkerne gezeigt hatte und von der Spaltung der Eizelle, erst in zwei, dann in vier, dann in acht und schließlich in sechzehn Zellen. Für sie hatten diese Aufnahmen aber alle bloß nach Luftblasen unter Wasser ausgesehen. Keineswegs hatten sie diese Bilder davon überzeugen können, dass das, was sie sah, von ihnen beiden stammte. Ihre Freundin hatte gesagt, sie sei zu misstrauisch, und amüsiert gefragt, ob sie vielleicht erwarte, dass ihr Name auf der Zelle draufstünde.
    »Es wird genauso sein wie bei einem normalen Kind«, sagte der Doktor, als er den Monitor des Ultraschallgeräts anknipste. »Es wird einem Elternteil ein bisschen mehr ähneln als dem anderen. Vielleicht sieht es sogar jemandem aus der Generation der Großeltern ähnlich.«
    Wiederum verschaffte ihr seine Antwort keine Genugtuung. Sie

Weitere Kostenlose Bücher