Der Engelmacher
niemals erlaubt.«
Dessen ungeachtet gab er sich keinerlei Mühe, seinen Sohn vor den Dorfbewohnern zu verbergen, was manche sehr provozierend fanden. Er nahm den Jungen mit zum Einkaufen, ließ ihn im Auto warten, wenn er auf Hausbesuch ging, und unternahm gelegentlich sogar einen Spaziergang mit ihm durchs Dorf, wobei er jedermann grüßte, als wäre nichts dabei.
Natürlich fiel allen sofort die große Ähnlichkeit von Vater und Sohn auf – die Haare, der Mund, die Augen –, sodass die Frage aufkam, ob der Junge eigentlich auch irgendetwas von seiner Mutter geerbt hatte. Mehr noch als die Ähnlichkeit mit seinem Vater fiel den Dorfbewohnern allerdings auf, dass etwas mit dem Kind nicht stimmte.
»Er spricht nicht.«
»Er lacht nicht.«
»Er ist einfältig.«
Die meisten Menschen verstanden deshalb auch nicht, warum der Doktor ihn aus der Anstalt herausgeholt hatte, und erst recht nicht mehr, nachdem Pastor Kaisergruber – ein Jahr zuvor hatte er die Stelle in Wolfheim angetreten – bemerkt hatte, es stecke noch immer das Böse in dem Jungen. Das habe er selbst von der Äbtissin des Klosters vernommen. Wer sich hingegen beim Vater vorsichtig nach dem Sohn erkundigte, bekam immer zu hören: »Es war ein Irrtum. Victor gehörte nicht dorthin.«
Im Gespräch mit dem Doktor nickte man dann verständnisvoll, aber so recht glaubte man ihm nicht. Und je öfter man den Jungen zu Gesicht bekam, desto mehr verbreitete sich die Überzeugung, dass tatsächlich etwas in ihm steckte, was mehr Böses als Gutes bewirkte.
Karl Hoppe wusste, dass es Gerede gab, und deshalb hätte er gerne allen gezeigt, dass mit seinem Sohn alles in Ordnung war, aber das erwies sich leider als schwieriges Unterfangen. Nicht nur sprach Victor kein Wort, sondern er zeigte auch selten Gefühlsregungen. Dennoch nahm der Doktor ihn überallhin mit, in der Hoffnung, dass der Kontakt mit normalen Menschen etwas in ihm lösen würde. Es lief eigentlich darauf hinaus, dass Victor neu geboren werden musste. So ähnlich stellte der Doktor es sich vor.
Dass er lesen konnte, wie Schwester Marthe behauptet hatte, war bislang eine reine Behauptung geblieben. Victor blätterte zwar in den Kinderbüchern, die der Doktor ihm gegeben hatte, aber das war alles. Und wenn man ihn etwas fragte, zuckte der Junge meist nur mit den Schultern, wenn er überhaupt reagierte.
Nichtsdestotrotz glaubte der Doktor weiter daran, dass sich die Dinge irgendwann zum Guten wenden würden. Es war eine Frage des Vertrauens, wie er sich selbst immer wieder vor Augen hielt. Das hatte ihm Schwester Marthe nachdrücklich mit auf den Weg gegeben. Wie sollte der Junge ihm auch auf Anhieb vergeben können, was er ihm fast fünf Jahre lang angetan hatte? Also sprach er weiter mit seinem Sohn, als ob nichts wäre. Genau wie er mit seiner Frau sprach, seit sie in diesen Schlaf gefallen war, aus dem sie nicht mehr geweckt werden konnte. Auch wenn er keine Antwort bekam, führte er lange Gespräche mit ihr und erzählte ihr in kurzer Zeit mehr als in all den vorherigen Jahren.
Nur dass er Victor wieder heimgeholt hatte, verschwieg er. Er log sie nicht an, er erzählte schlichtweg nichts darüber, weil er Angst hatte, seine Frau würde ihn dann für immer und ewig verfluchen. Und deshalb, aber auch nur deshalb, war es ihm ganz recht, dass Victor nie einen Ton von sich gab.
Eines Tages war ein Hoffnungsfunken bei ihm aufgeblitzt. Er hatte seinen Sohn während der Sprechstunde in dem früheren Nähkämmerchen seiner Frau zurückgelassen. Er hatte ihn vor das halb fertige Puzzle gesetzt, mit dem sie zuletzt beschäftigt gewesen war, bevor sie das Bett endgültig nicht mehr verließ.
»Setz das jetzt mal weiter zusammen«, hatte er zu Victor gesagt, nachdem er ihm mit zwei Teilen gezeigt hatte, wie es ging. Er machte sich keine Illusionen, denn das Puzzle, aus dem sich der Turm von Babel zusammensetzen sollte, bestand aus zweitausend Teilen. Er hatte zu jenem Zeitpunkt nichts anderes zur Hand, womit er seinen Sohn geistig hätte beschäftigen können. Und in der Anstalt hatte er die Patienten manchmal puzzeln sehen. Schwester Milgitha zufolge war das eine gute Therapie, um in wirre Köpfe ein bisschen Struktur zu bringen.
Als Johanna vor gut einem halben Jahr plötzlich mit dem Puzzle angekommen war, nachdem es in ihrem Haushalt bisher nie auch nur ein einziges gegeben hatte, war er ins Grübeln geraten. Wurde sie langsam kindisch, oder wollte sie mit dieser Beschäftigung das
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