Der Engelmacher
der Worte als vielmehr auf die Aussprache. Die war etwas nasal. Außerdem fiel ihm auf, dass das »t« und das »d« immer nur angedeutet waren. Ein Sprechfehler. Es musste einfach die Stimme Victors sein. Er sprach! Die Freude, die das bei seinem Vater auslöste, wurde allerdings noch im selben Augenblick dadurch zunichte gemacht, als er erkannte, woher die Stimme kam. Nämlich nicht aus Victors Schlafzimmer, sondern aus dem Johannas.
»… Du Ausspender aller Gnaden. Du Tröster der Betrübten. Du Erleuchter der Patriarchen. Du Lehrer der Apostel …«
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Mit ein paar Schritten war er beim Schlafzimmer angelangt und sah dort seinen Sohn am Bett seiner Frau sitzen. Victors rotes Haar schien im Kerzenschein zu glühen, während er mit vorgebeugtem Kopf und gefalteten Händen monoton vor sich hin sprach.
Sie darf es nicht wissen, dachte Karl Hoppe, und panisch stürzte er auf seinen Sohn zu. Er fasste ihn am Oberarm und zog ihn brüsk von seinem Stuhl. Die Junge stieß einen Schrei aus, und im selben Moment sah der Doktor aus dem Augenwinkel zu seiner Frau hinüber. An der Fahlheit ihres Gesichts und dem halb offen stehenden Mund sah er sofort, dass der Tod eingetreten war. Verwirrt ließ er seinen Sohn wieder los, legte Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader seiner Frau, spürte die Kälte ihres Körpers und das Schweigen ihres Herzens und rief, obwohl er es besser wusste, mehrmals ihren Namen.
Dann sah er seinen Sohn an, der drei Monate lang geschwiegen und gerade zum ersten Mal wieder gesprochen hatte. Und blickte wieder auf seine Frau, die tot war. Vom Sprechen sah er zum Sterben, und sofort wusste er, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Sprechen seines Sohns und dem Sterben seiner Frau gab. Dass das eine das andere verursacht hatte. Und obwohl er die Geschichte vom Teufel, der in seinen Sohn gefahren sei, stets bezweifelt hatte, glaubte er in diesem Augenblick, da die Kerze große Schatten an die Wand malte, doch daran. Und diese Erkenntnis, diese schmerzhafte Erkenntnis, setzte in seinem Kopf etwas frei. Als hätte jemand einen Hebel umgelegt, brachen plötzlich alle Wut, aller Kummer und alle Enttäuschung, die er jahrelang in sich hineingefressen und irgendwo in seinem Inneren verschlossen gehalten hatte, aus ihm hervor. Nicht über den Mund, indem er geflucht, und auch nicht über die Augen, indem er geheult hätte, sondern über seine Rechte, die weit ausholte und nach vorne schnellte, um mit einem lauten Knall die Wange seines Sohnes zu treffen.
Karl Hoppe hatte sich immer vorgenommen, nie zu tun, was er nun doch getan hatte. Schon als ihm in seiner Jugend klar geworden war, dass er möglicherweise selber eines Tages Kinder haben würde, hatte er beschlossen, diesen Kindern nie das anzutun, was er von seinem eigenen Vater hatte erdulden müssen. Aber in dem Schlag, den er Victor versetzt hatte, erkannte er mit einem Schrecken jene verfluchte Aggression wieder, von der er stets gehofft hatte, dass sie ihm nicht auch ins Blut übergegangen war.
Wie sehr musste ihm etwas Leid tun, bevor er es auch zugab? Diese Frage hatte Johanna sich bei ihrem Mann immer gestellt. Wenn sie über Kleinigkeiten gestritten und er danach ohne Grund tagelang kein Wort mit ihr gesprochen hatte. Wenn er irgendeinen Gegenstand nicht wiederfand und ihr die Schuld gab, während sich später herausstellte, dass er ihn selbst verlegt hatte. Nie entschuldigte er sich im Nachhinein. Nie sagte er, es tue ihm Leid. Er zeigte es allenfalls: indem er den Tisch abräumte oder ihr beim Abwasch half, indem er ihr Artikel aus der Zeitung vorlas oder nachts seine Hand auf ihren Rücken legte. Aber offen sagen, dass es ihm Leid tat? Kein einziges Mal. Das hatte sie immer an ihm geärgert.
Es war stärker gewesen als er. Wenn in irgendjemandem der Teufel gesteckt hatte, dann in ihm, als er Victor diesen Schlag versetzt hatte. Es reute ihn, aber er konnte es nicht mehr ungeschehen machen. Und was bedeutete Reue schon? Er hatte jedenfalls nie etwas davon gehabt, wenn sein eigener Vater Reue gezeigt hatte, bevor noch der Schmerz abgeklungen war, den seine Schläge hinterlassen hatten. Er hatte schließlich gewusst, dass der Reue zum Trotz doch wieder neue Schläge folgen würden.
Nein, er fragte sich vielmehr, ob er es wiedergutmachen konnte. Was konnte er tun, damit Victor ihm vergab? Wie sollte er je das Vertrauen des Jungen gewinnen?
Die neuen Puzzles waren ein guter Anfang.
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