Der Engelmacher
Victor nicht dorthin zurückzuschicken, wo er hergekommen war. Im Gegenteil, er würde den Dorfbewohnern und vor allem Pastor Kaisergruber zeigen, dass Victor weder böse noch dumm war, sondern dass viel eher ihr eigener Aberglaube so bezeichnet werden konnte, jener Aberglaube, gegen den er schon so oft hatte ankämpfen müssen. Aber dieser Kampf wäre noch einmal von ganz anderem Kaliber als derjenige, den er damals ausgefochten hatte. Er wäre mühseliger. Davon war er überzeugt.
Allen Bemühungen seines Vaters zum Trotz musste Victor oft an die Anstalt denken. Vieles in seinem neuen Zuhause erinnerte ihn schließlich daran: die Kruzifixe an den Wänden, das Weihwasserbecken in der Diele, die Marienstatue und die getrockneten Palmenzweige auf dem Kamin. Auch waren an verschiedenen Orten Täfelchen zu finden mit Sprüchen wie »Gott sieht alles« und »Hier flucht man nicht«, und die Gerüche aus dem Sprechzimmer und dem Warteraum riefen ebenfalls Erinnerungen wach. Einmal erkannte er den Geruch von Äther oder Desinfektionsmittel, ein andermal roch er den Schweiß und die sonstigen Ausdünstungen ungewaschener Körper.
Vor allem aber die Worte, die allabendlich, wenn er im Bett lag, an sein Ohr drangen, führten ihn in Gedanken immer wieder ins Kloster zurück. Im Zimmer nebenan las sein Vater aus der Bibel vor. Er hörte die Sätze nur undeutlich, aber weil er sie kannte, konnte er sie bei sich im Stillen leicht nachsprechen. Oft musste er dann an Schwester Marthe denken.
Im Zimmer neben ihm lag eine Patientin. Das hatte sein Vater erzählt. Sein Vater hatte auch gesagt, dass er dieses Zimmer nicht betreten durfte. Dass es verboten war. Aber das verstand er nicht. Es war doch nur verboten, zu einer Schwester zu gehen. Das hatte man ihm beigebracht. Die Patienten durften nicht in die Kammern der Schwestern. Aber Patienten durften sehr wohl zu anderen Patienten. Das war schon immer so gewesen.
Und darum war er doch zu der Patientin gegangen. Einmal. Noch einmal. Und dann noch viele weitere Male. Immer wenn sein Vater schon eingeschlafen war und dasselbe Brummgeräusch von sich gab wie viele Patienten.
Als er zum ersten Mal bei der Patientin war, erkannte er schon aus einiger Entfernung in den gefalteten Händen einen Rosenkranz, wie ihn die Schwestern auch hatten. Vielleicht war die Patientin ja doch eine Schwester, vielleicht durfte er deshalb nicht zu ihr.
Er schlich sich ein Stück weiter vor, und beim Licht der Kerze, die dort brannte, betrachtete er das Gesicht. Es sah tatsächlich aus wie das Gesicht einer Schwester. Aber sie hatte keine Haube auf dem Kopf, also war sie auch keine Schwester. Sondern doch eine Patientin. Eine stille Patientin. Nicht so wie Egon Weiss. Eher so wie Dieter Lebert. Der hatte auch immer reglos im Bett gelegen, nur sein Brustkorb hatte sich auf und ab bewegt. Immer auf und ab. Lebert ist eine Pflanze, hatte Marc François einmal gesagt, aber das hatte Victor nicht geglaubt.
Wenn er die Patientin in dem Zimmer besuchte, setzte er sich immer an das Bett und betrachtete den Brustkorb, der sich hob und wieder senkte. Manchmal las er in der Bibel, die auf dem Schränkchen neben dem Bett lag. Er blieb meist so lange dort sitzen, wie er seinen Vater schlafen hörte. Wenn das Brummgeräusch aufhörte, schlich er zurück in sein Zimmer.
Aber eines Tages war die Patientin plötzlich tot. Das sah er auf Anhieb, weil die Brust sich nicht mehr hob und senkte. Außerdem roch er es. Er kannte diesen Geruch. Wie bei jemandem, der sich in die Hose gemacht hat, zusammen mit noch einem anderen Geruch, den er nicht beschreiben konnte.
Wenn jemand tot war, dann musste gebetet werden. Das war so. Damit die Seele des Toten Ruhe fand, hatten die Schwestern gesagt. Und darum faltete er die Hände und fing an, die Litanei zum Heiligen Geist aufzusagen. Laut. Denn die Schwestern mussten es immer hören können, wenn die Patienten beteten.
Karl Hoppe dachte erst, er träume. Dann dachte er, jemand wäre ins Haus eingedrungen. Aber als ihm klar wurde, dass es eine Kinderstimme war, dachte er sofort an Victor und sprang aus dem Bett.
Er stürzte zum Zimmer seines Sohnes und machte kurz vor der Tür Halt, um Victor nicht zu erschrecken und um zu hören, ob die Stimme tatsächlich die seines Sohnes war.
»Du Geist des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Du Geist der Wahrheit, der Freude und des Friedens. Du Geist der Geduld, der Güte und der Milde …«
Der Doktor achtete weniger auf den Sinn
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