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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Kind in sich selbst zum Leben erwecken? Einer seiner Kollegen hatte vermutet, Johanna versuche, Stück für Stück eine innere Leere zu füllen. Das hatte er als Erklärung eher unwahrscheinlich gefunden, aber mit der Zeit schien das Puzzeln dann doch eine gute Therapie zu sein; zumindest hatte er das Gefühl, dass es auf seine Frau eine beruhigende Wirkung hatte. Im Übermaß beruhigend, wie sich schließlich herausstellen sollte.
    Am Ende der Sprechstunde war er zu dem Nähkämmerchen zurückgekehrt und hatte von der Tür aus seinen Sohn beobachtet. Er hatte gesehen, wie der Junge konzentriert zwischen den losen Teilen gesucht, eines herausgepickt und auf Anhieb an der richtigen Stelle angelegt hatte, ohne erst ausprobieren zu müssen, ob es passte. Er war an den Tisch getreten und hatte zu seinem Erstaunen festgestellt, dass Victor das Puzzle bereits zu mehr als drei Vierteln fertig hatte, und das in kaum anderthalb Stunden.
    Er ist also doch nicht debil, hatte er aufgeregt gedacht.
    Aber kurz darauf hatte er seine Meinung revidieren müssen. Eine Viertelstunde lang hatte er seinen Sohn beobachtet, während dieser unbeirrbar weiter gepuzzelt hatte. Vor allem diese Unbeirrbarkeit war ihm aufgefallen. Victors Handlungen hatten etwas Mechanisches an sich. Der Junge ließ den Blick über die Puzzleteile gleiten, suchte eines aus und legte es an die richtige Stelle. Und wieder von vorn. Immer derselbe Blick, dasselbe Herauspicken, dasselbe Anlegen. Und wieder.
    Schauen, Auswählen, Anlegen. Und wieder. Und die ganze Zeit über blieb Victors Gesicht unbewegt und leer.
    Zwangshandlungen. Daran hatte er denken müssen, und er hatte sich bestätigt gefühlt, nachdem er Victor ein Puzzleteil weggeschnappt hatte. Victor hatte sich nicht einmal gewehrt. Er hatte keinerlei Anzeichen von Ärger gezeigt. Verständnislos oder wütend war er auch nicht geworden.
    So sag doch etwas! Reagier doch in Gottes Namen irgendwie! Das hatte er rufen wollen, aber er hatte geschwiegen und seine Wut hinuntergeschluckt, während er kopfschüttelnd seinen Sohn betrachtet hatte, der wie erstarrt dasaß, die Hand in der Luft, Daumen und Zeigefinger aneinandergedrückt, als befände sich dazwischen noch immer das Puzzleteil. In dieser Haltung erstarrt, hatte Victor gewartet, bis er es zurückbekommen hatte. Und dann hatte er es sofort dort angelegt, wo es hingehörte, und war unbeirrt mit dem nächsten fortgefahren.
    Zwanghaft. Das Wort war dem Doktor nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und ohne es zu wollen, ja mit einem Gefühl der Enttäuschung hatte er wieder an den Ort denken müssen, an dem Victor die letzten Jahre verbracht hatte.
     
    Er merkte, dass die Leute seine Wohnung mieden, seit er seinen Sohn wieder bei sich aufgenommen hatte. Dass Pastor Kaisergruber fortblieb, war ihm als Erstes aufgefallen, denn vorher hatte der Priester beinahe wöchentlich hereingeschaut, um an Johannas Bett aus der Bibel vorzulesen. Diese Aufgabe hatte der Doktor dann selbst übernommen, weil er vermutete, dass seine Frau das gerne wollte. Von sich aus hätte er nie angefangen, in der Bibel zu lesen, denn er war viel weniger gottesfürchtig als seine Frau. Weniger fanatisch, hatte er bisweilen gedacht, aber nie laut gesagt.
    Mit der Zeit blieben immer mehr Patienten fort. Früher war das Wartezimmer stets voll gewesen, aber seit Victors Rückkehr hatte sich das geändert. Woche für Woche nahm die Zahl der Patienten ab, und eines Tages tauchte kein einziger mehr auf.
    Das erinnerte ihn an seine ersten Monate in Wolfheim, vor etwa zehn Jahren. Direkt nach dem Examen war er mit seiner Frau aus dem Nachbardorf Plombières gekommen, wo sie beide als Hausärzte gearbeitet hatten. Und obwohl Wolfheim jahrelang darauf gewartet zu haben schien, dass sich ein Arzt dort niederließ, hatten die Einwohner seine Praxis anfangs gemieden. Das Misstrauen gegenüber Neulingen war groß, und es hatte Monate gedauert, bis er und seine Frau von der Gemeinschaft akzeptiert worden waren. Dass sein Äußeres vielleicht eine Rolle dabei gespielt hatte, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Wohl aber hatte er bemerkt, dass der schließliche Sinneswandel eher durch Johannas tiefe Gläubigkeit und ihren selbstlosen Einsatz für die Kirchengemeinde bewirkt worden war denn durch seine Leistungen als Arzt.
    Wie er nun ohne die Hilfe seiner Frau das Ruder herumreißen sollte, wusste er nicht. Das heißt, eigentlich wusste er es schon, es war sogar ganz einfach, aber er war fest entschlossen,

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