Der Engelmacher
Zwischen den vielen Kondolenzbesuchen war der Doktor zu dem kleinen Laden in der Galmeistraße gelaufen und hatte die drei Puzzles gekauft, die dort noch herumlagen. Er hatte befürchtet, Victor würde nichts mehr von ihm annehmen wollen, aber der Junge hatte ohne Zögern die Kartons geöffnet und sogleich im Nähkämmerchen, abseits der vielen Besucher, mit einem der Puzzles angefangen.
Am Ende des Tages hatte er die drei Puzzles zusammengesetzt. Eigentlich hatte der Doktor gehofft, dass sein Sohn die ganze Zeitspanne zwischen Tod und Begräbnis mit Puzzeln verbringen würde. Aber wenn ein Puzzle einmal fertig war, weigerte Victor sich, es wieder zu zerlegen und von vorn anzufangen.
Daraufhin hatte Karl Hoppe einen Entschluss gefasst.
»Hier«, sagte er, »ich glaube, sie hätte es so gewollt.«
Mit »sie« meinte er eigentlich seine Frau, aber ebenso musste er an Schwester Marthe denken, als er Victor die Bibel in die Hand drückte. Die hatte seinerzeit bei dem kurzen Gespräch im Kloster erzählt, Victor habe immer gern in der Bibel gelesen. Aber weil er wollte, dass sein Sohn die Jahre in der Anstalt so schnell wie möglich vergaß, hatte er ihm das Buch bewusst vorenthalten. Dass sein Sohn für Johanna gebetet hatte, wie ihm erst im Nachhinein bewusst geworden war, hatte dazu beigetragen, dass er es sich anders überlegt hatte. Vielleicht konnte er auf diese Weise das Vertrauen des Jungen gewinnen. Außer für Victor tat er es auch für seine Frau, denn er war sicher, dass sie es ebenfalls gewollt hätte. Und schließlich, aber das wollte er nicht so recht wahrhaben, tat er es auch sich selbst zuliebe, für seine eigene Gemütsruhe. Es erleichterte ihn, als hätte er endlich eine alte Schuld abbezahlt.
Er erwartete eigentlich nichts, und so war die Überraschung groß, als Victor auf Anhieb, sobald er die Bibel in die Hände bekam, darin zu lesen anfing. Auch wenn er nicht laut las, war sich der Doktor doch sicher, dass er las. Er sah es daran, wie das Kind mit dem Finger die Zeilen entlangfuhr, von links nach rechts und vom Ende einer Zeile zum Anfang der nächsten.
Vers eins. Vers zwei. Vers drei. Vers vier. Vers fünf.
»Lies doch mal laut, Victor.« Er fürchtete schon, vielleicht doch ein bisschen zu viel verlangt zu haben.
Aber Victor entsprach der Bitte mühelos.
»Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.«
Der Doktor war verblüfft. Na also, dachte er, hab ich’s doch gewusst.
»Weiter, lies weiter, Victor.«
»Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen …«
Er hörte nur halb zu. Er fragte sich, was seine Frau wohl davon gehalten hätte. Er selbst war etwas zwiegespalten: Einerseits war er freudig überrascht, dass sein Sohn lesen konnte und folglich durchaus, ja sogar überaus intelligent war, denn welches Kind dieses Alters konnte das schon? Andererseits wusste er, dass es für ihn und erst recht für seine Frau viel beruhigender gewesen wäre, wenn sich doch herausgestellt hätte, dass Victor tatsächlich debil war. Dann hätte es keinen Grund gegeben, sich schuldig zu fühlen für das, was sie ihm jahrelang angetan hatten. Zum Glück brauchte sie dies nicht mehr mitzuerleben.
Er versuchte, sich wieder auf Victors Worte zu konzentrieren.
»Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Örter, dass man das Trocken sehe.«
»Das Trockne«, verbesserte der Doktor ihn automatisch, und sofort tat es ihm Leid, denn mit Schrecken wurde ihm plötzlich bewusst, dass er sich schon wieder genauso benahm wie sein eigener Vater. Mehr noch, es war, als klinge in seiner eigenen Stimme die seines Vaters durch.
»Du musst aus deinen Fehlern lernen«, hatte sein Vater ihm stets bis zum Überdruss eingetrichtert. Immer hatte er nur auf die Fehler seines Sohnes geachtet. Nie hatte sein Vater ihn für etwas gelobt, was er richtig gemacht hatte – das Richtige galt als Selbstverständlichkeit. Das hatte sein Vater auch immer gesagt.
»Das Trocken«, sagte Victor.
»Trockne, Victor, das Trockne oder das Trockene«, korrigierte er, obwohl er eigentlich sagen wollte, dass es gut war.
Ein paar Tage nach der Beerdigung Johannas hatte Pastor Kaisergruber Besuch von Karl Hoppe bekommen. Der Doktor war gekommen, um die Kosten für die Messe zu bezahlen, und hatte den Geistlichen kurz vor dem Gehen direkt ins Gesicht gefragt: »Glauben Sie noch immer, dass mein Sohn in eine Anstalt gehört?«
»Für ihn selbst schiene es
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