Der Engelmacher
das er noch nie sprechen gehört hatte und von dem er es auch jetzt nicht erwartete, so wie es da saß. In dringlichem Tonfall wandte sich der Doktor erneut an seinen Sohn: »Victor, Pastor Kaisergruber hat dich etwas gefragt.«
Ich muss dieser peinlichen Vorstellung ein Ende bereiten, dachte der Priester.
»Oder lassen Sie den Jungen doch etwas aus der Bibel vorlesen«, schlug er vor, »das ist doch auch …«
»Nein, nein, er kann es! Er hat es schon hunderte Male vorgemacht. Er will jetzt nur nicht! Kapitel sieben, Vers sechs, Victor!«
Ihm fehlt seine Frau, dachte der Priester. Er findet keinen Halt mehr. Sie hätte es nie so weit kommen lassen.
»Herr Doktor …«, fing er an.
»Sie glauben mir nicht, was?«, unterbrach der Doktor ihn abrupt. »Sie glauben, ich denke mir das alles nur aus. Sie glauben, Victor ist debil, oder?«
»Herr Doktor, es ist nichts Schlimmes daran, dass Ihr Sohn debil ist. Sie brauchen sich deshalb …«
»Zeig es ihm, Victor! Zeig ihm endlich, dass er Unrecht hat!«
»Wir müssen es ja nicht …«
»Ruhe!«
Der Priester erschrak merklich, woraufhin der Doktor sich offenbar seiner Raserei bewusst wurde.
»Victor soll sprechen«, sagte er nun in ruhigerem Ton. Seine Wut konnte er mit diesem Tonfall verbergen, seine Verzweiflung nicht.
Aber Victor gab keinen Mucks von sich, und an dem rot angelaufenen Gesicht des Doktors sah der Priester, wie sehr dieser sich zurückhalten musste. Er überlegte, ob er sagen sollte, dass man Victor in der Anstalt von La Chapelle bestimmt zurücknehmen würde, obwohl er sich dessen nicht sicher war. Es schien ihm aber doch klüger zu schweigen. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Ich muss nun wirklich gehen, Herr Doktor. Es tut mir Leid.«
Der Doktor stand nicht einmal auf, um ihn zu verabschieden. Er nickte nur anhaltend vor sich hin. Pastor Kaisergruber überlegte, ob er noch etwas sagen sollte. Dann warf er einen letzten Blick auf Victor und dachte: Ich habe versucht, ihn zu retten. Mehr kann ich nicht tun.
»Amen.«
Das sagten die Patienten immer, wenn sie von Pastor Kaisergruber etwas bekamen. Marc François sagte manchmal »Amen und Schluss!«, aber das war falsch. Dafür bekam er später von Schwester Milgitha eine Strafe. Alle anderen sagten immer »Amen«. Nämlich nachdem sie von Pastor Kaisergruber den Leib Christi erhalten hatten. Und wer nichts bekam, musste den Mund halten. Das hatte Schwester Milgitha gesagt.
Weiß mein Vater das denn nicht?, fragte Victor sich. Hat Schwester Milgitha ihm das nie erzählt?
Bis zu jenem Tag war es gutgegangen, fand Karl Hoppe. Seit er seinem Sohn die Bibel gegeben hatte, hatte der Junge sich verändert. Als ob sich mit dem Aufschlagen der Bibel auch in Victor selbst etwas geöffnet hätte.
Manchmal dachte er, es sei durch den Schlag gekommen. Als habe er damit etwas losgeschlagen, was die ganze Zeit über in dem Jungen festgesessen hatte. Aber den Gedanken verdrängte er lieber. Es kam durch die Bibel! Mit diesem Geschenk hatte er das Vertrauen seines Sohnes gewonnen. Anscheinend hatte die Bibel ihm einen Halt gegeben, während der Doktor immer gedacht hatte, die Erinnerungen an das Kloster müssten nach Möglichkeit erstickt werden.
Nicht, dass sie seither richtige Gespräche geführt hätten, Victor und er. Allenfalls ein paar Worte hatten sie ausgetauscht. Er fragte etwas, und Victor antwortete »Ja« oder »Nein« oder »Ich weiß es nicht«. Was der Junge wirklich dachte, war ein Rätsel. Selbst wenn er etwas Wichtiges erzählte, reagierte Victor nicht darauf.
»Die Frau, die oben in dem Bett lag, weißt du noch?«, hatte er eines Tages angefangen.
Victor hatte genickt.
»Sie war deine Mutter.«
Der Junge hatte nicht einmal aufgesehen. Ebenso gut hätte der Doktor sagen können, draußen sei schönes Wetter. Trotzdem hatte er hinzugefügt: »Sie war krank.«
Das war bereits alles, was er ihm je über sie erzählt hatte. Victor hatte auch nicht nachgefragt. Mit Fragen ging er ebenso sparsam um wie mit Antworten.
Ein einziges Mal hatte Victor gefragt: »Wie kann ich selber Doktor werden?«
»Indem du viel lernst und viel liest.«
»Das ist alles?«
»Und du musst gut zu den Menschen sein. Und ihnen Gutes tun.«
»Gut sein. Gutes tun«, hatte Victor wiederholt.
Es war eine nichtssagende Antwort gewesen, aber Victor hatte sie genügt, er hatte genickt und war in seiner Beschäftigung fortgefahren. Seine Beschäftigung bestand zumeist im Lesen. Und das Buch war
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