Der Engelmacher
zumeist die Bibel.
Victor las, und sein Vater verbesserte die Fehler. Sobald Victor fehlerfrei lesen konnte, musste er es Pastor Kaisergruber vorführen. Das hatte sich der Doktor bereits am Tag nach dem Begräbnis seiner Frau vorgenommen, und darum hatte er die Neugier des Priesters damals schon angestachelt. Er hatte es als Herausforderung betrachtet.
Als er eines Tages gemerkt hatte, dass Victor die Bibel nicht nur lesen konnte, sondern große Teile daraus auch auswendig aufsagen, hatte er die Messlatte noch höher gelegt. Pastor Kaisergruber würde vor Staunen den Mund nicht mehr zubekommen.
Es schien Victor keine Mühe zu bereiten. Er betrachtete es vermutlich als Spiel, auch wenn er sich nie anmerken ließ, ob es ihm wirklich Spaß machte. Er ließ sich ohnehin nie etwas anmerken. In der Hinsicht hatte er sich nicht verändert. Und das ärgerte den Doktor. Aber um den Priester mit offenem Mund dastehen zu lassen, würde es schon reichen.
Was ein Sieg hatte werden sollen, war schließlich auf eine schändliche Niederlage hinausgelaufen. Und nachdem der Priester das Haus verlassen hatte, hatte der Doktor Victor den Vers Silbe für Silbe eingehämmert.
Er. War. A. Ber. Sechs. Hun. Dert. Jah. Re. Alt. Da. Das. Was. Ser. Der. Sint. Flut. Auf. Er. Den. Kam.
Und wenn Victor geheult hätte, wenn seine Tränen sintflutartig geflossen wären, dann wäre sein Vater vielleicht auch rechtzeitig wieder zu Vernunft gekommen. Aber Victor ertrug geduldig Schlag für Schlag. Bis zur letzten Silbe.
***
Als Rex Cremer im April 1979 Kontakt mit Victor Hoppe aufnahm, lehrten noch viele von dessen ehemaligen Professoren an der Universität. Der Ärztliche Direktor, der selbst erst seit 1975 im Dienst war, hatte sich im Vorfeld bei verschiedenen Kollegen nach Victor Hoppe erkundigt. Einige Professoren, vor allem diejenigen, die rein theoretische Fächer wie Soziologie und berufliche Ethik unterrichteten, meinten sich zu erinnern, ihn zwar selten in den Vorlesungen gesehen zu haben – und wenn doch, dann sei er vor allem durch sein Äußeres aufgefallen –, aber bei den Examen habe er stets bewiesen, dass er den Lehrstoff sorgfältig studiert hatte. Diejenigen hingegen, die ihn bei den praktischen Übungen im Labor begleitet hatten, konnten sich noch lebhaft an den Studenten Victor Hoppe erinnern. Auch ihnen waren natürlich sein physisches Erscheinungsbild und seine Stimme in Erinnerung geblieben, aber vor allem war er durch seine Leidenschaftlichkeit aufgefallen, oder, wie einer der Professoren es umschrieb, durch seine Besessenheit. Er konnte sich Stunden am Stück mit ein und demselben Versuch beschäftigen, ohne ungeduldig oder missmutig zu werden, und das führte oft zu herausragenden Ergebnissen.
»Er war einer der begabtesten Studenten, die ich je hatte«, hatten unterschiedliche Stimmen unisono bezeugt. Einige Professoren hatten allerdings hinzugefügt, diese Begabung sei ausschließlich intellektueller Art gewesen, nicht sozialer oder kommunikativer.
»Ein Einzelgänger«, hatte einer der Profs gesagt. »Ich glaube nicht, dass er viel Kontakt zu anderen Studenten hatte.«
Seinem Doktorvater Bergmann zufolge, der inzwischen pensioniert war, versetzten seine enormen theoretischen Kenntnisse Victor Hoppe seinerzeit in die Lage, Ideen zu entwickeln, die so revolutionär waren, dass sie in der Praxis nie hätten verwirklicht werden können, zumindest nicht in diesem Jahrhundert.
In einer Sitzung, in der über die Berufung Victor Hoppes entschieden werden sollte, hatte ein anderer Professor, Doktor Maserath, gesagt: »Manchmal erinnerte er mich an Jules Verne. Der schrieb auch schon über Raketen, als noch nicht mal der Benzinmotor erfunden worden war.«
»Nur dass Jules Verne sich auf das Schreiben von Büchern beschränkte«, hatte Doktor Genet angemerkt, Victors früherer Professor in Vererbungslehre, »und nicht versuchte, seine Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen.«
Auf diese Bemerkung kam er noch einmal zurück, als Rex Cremer ihm später erzählte, Victor wolle versuchen, Mäuse zu klonen.
»Genau das meine ich!«, rief er aus. »Wir haben gerade erst gelernt, auf zwei Beinen zu gehen, und er will gleich Marathon laufen!«
»Er legt die Messlatte tatsächlich sehr hoch«, stimmte Doktor Maserath zu, »aber ich bin mir gar nicht sicher, ob das so falsch ist.«
»Das ist genau das, was er am Telefon sagte«, pflichtete Cremer ihm bei, »dass wir uns selbst in unseren Möglichkeiten beschränken.
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