Der Engelmacher
mir das Beste, ja«, hatte der ehrlich geantwortet.
»Aber er ist nicht debil.«
Das ist nicht der einzige Grund, hatte der Priester gedacht, aber nicht laut gesagt.
»Ich kann beweisen, dass er nicht debil ist«, hatte der Doktor hinzugefügt. »Victor selbst kann es beweisen.«
»Da bin ich neugierig«, entgegnete der Priester, obwohl er das keineswegs war.
»Aber noch nicht gleich. Er übt noch. Bald. Sie werden staunen.«
Schon zu diesem Zeitpunkt hatte Pastor Kaisergruber das Gefühl gehabt, dass Karl Hoppe am Rande der Verzweiflung stand. Ein paar Wochen später fand er diese Vermutung bestätigt, als er den Doktor zu Hause aufsuchte. Er hatte vergeblich versucht, dessen Einladung abzuwimmeln.
Der Doktor brachte ihn zuerst in ein Kämmerchen, wo auf dem Tisch und dem Fußboden verschiedene fertig zusammengesetzte Puzzles herumlagen.
»Die hat Victor gemacht. Alle. Ganz allein. Ohne Hilfe«, sagte er stolz.
Der Priester nickte, während er sich fragte, ob er dafür extra hatte kommen müssen. Aber dann lotste der Doktor ihn ins Wohnzimmer, wo Victor am Kopfende eines großen Esstisches saß.
Der Doktor bedeutete dem Priester, ebenfalls an dem Tisch Platz zu nehmen, an der Längsseite. Das tat er, ließ aber zwischen sich und dem Jungen einen Platz frei.
Das letzte Mal hatte er Victor in der Anstalt gesehen, am Tag, bevor Doktor Hoppe ihn dort abgeholt hatte. Später hatte Schwester Milgitha erzählt, der Doktor habe eine Szene gemacht, bei der er den guten Namen der Anstalt in den Schmutz gezogen habe.
Er, als Hirte Wolfheims, hatte den Doktor noch verteidigt. Er hatte gesagt, es stehe schlecht um dessen Frau, vielleicht sei er deshalb momentan über die Maßen reizbar.
»Dann soll er selbst mal zu einem Arzt gehen!«, hatte Schwester Milgitha entrüstet ausgerufen. Sie war für vernünftige Erwägungen nicht zugänglich gewesen.
Die Äbtissin hatte ihn gefragt, ob es nicht besser wäre, den Doktor vorläufig nicht mehr zu besuchen. Nicht zur Strafe, sagte sie, sondern damit er Zeit habe, sich zu besinnen. Ihre Frage hatte die Antwort bereits enthalten.
Das lag vier Monate zurück. Seither hatte der Priester Victor nicht mehr gesehen. Aber es hatte sich nichts an dem Jungen verändert. Das sah er auf Anhieb. Die Haltung. Das Äußere. Der Blick. Als hätten sich nur die Kulissen verschoben, während Victor still sitzen geblieben war.
Auf dem Tisch vor seiner Nase lag ein dickes Buch aufgeschlagen, der Priester vermutete, dass es die Bibel war. Doktor Hoppe, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches Platz genommen hatte, bestätigte dies.
»Victor liest die Bibel«, sagte er.
Der Junge blieb teilnahmslos, aber sein Vater machte einen sehr nervösen Eindruck. Er strich sich ständig mit der einen Hand über die andere, und wenn der Priester ihn ansah, wandte er schnell den Blick ab.
»Das ist schön«, sagte der Priester.
Kurz sah er Victor an, der in die Bibel starrte, als hätte sein Vater ihn so hingesetzt und ihm verboten, sich zu bewegen. Wie alt mag der Junge jetzt wohl sein, fragte er sich. Beinahe sechs?
»Aber er kann noch mehr«, sagte der Doktor mit viel Nachdruck auf dem letzten Wort. »Nicht wahr, Victor?«
Der Junge zeigte keinerlei Reaktion, und der Priester wusste nicht, mit wem er mehr Mitleid haben sollte, mit dem Vater oder mit dem Sohn.
»Victor, schlag mal die Bibel zu«, sagte der Doktor.
Er gehorchte, dabei hätte der Priester das Kind jetzt eigentlich gerne aus der Bibel vorlesen hören.
»Herr Pastor, nennen Sie einen Vers aus dem Buch Genesis.«
»Wie, einen Vers?«
»Einfach zwei Zahlen. Kapitel zwölf, Vers sieben zum Beispiel.«
Der Priester zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht Kapitel sieben, Vers sechs?«
Er musste selbst kurz nachdenken, was da eigentlich stand, aber dazu kam er nicht, denn der Doktor bedeutete ihm mit einem Nicken, er solle sich an Victor wenden. Er sah den Jungen an und wiederholte: »Kapitel sieben, Vers sechs.«
Im selben Augenblick fiel ihm auch der Vers wieder ein: Er war aber 600 Jahre alt, da das Wasser der Sintflut auf Erden kam.
Im Zimmer blieb es still. Lediglich das Ticken der Pendeluhr auf dem Kamin war zu hören. Der Priester ließ seinen Blick schweifen. Neben der Pendeluhr stand eine Marienstatue unter einer Glasglocke, und darüber hingen an der Wand die Palmenzweige vom letzten Jahr.
»Victor, Kapitel sieben, Vers sechs«, wiederholte der Doktor.
Aus dem Augenwinkel beobachtete der Priester das Kind,
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