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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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aufreißen, sodass zwei getrennte Körper daraus entstünden, die sich indes nicht vollständig trennten. Siamesische Zwillinge, fasste einer der Biologen den Sachverhalt zusammen. Genau, antwortete Victor Hoppe, ohne irgendeine Gefühlsregung zu zeigen.
    Gegen Ende des Jahres hatte das Projekt noch immer keine konkreten Ergebnisse erzielt. Doktor Genet sah sich in seiner Meinung bestätigt, dass die Universität ihr Geld lieber in ein anderes Vorhaben hätte investieren sollen.
    Drei Monate später machte Rex Cremer eine Entdeckung, die, wie sich herausstellte, für die Versuche Victor Hoppes von großer Bedeutung war. Aus einer Pilzart gewann er das Stoffwechselprodukt Cytochalasin, welches verhinderte, dass die Eiweißmoleküle, die das Cytoskelett bilden, sich vermehrten, sodass das Cytoplasma um den Zellkern herum weich blieb. Die Folge davon war, dass die Zellwand, wenn sie mit einer Pipette durchdrungen wurde, weniger Schaden nahm, wodurch die Überlebenschancen der Zelle erheblich stiegen.
    Bei der nächsten Sitzung gab Victor bekannt, dass der Stoff, den Doktor Cremer gefunden hatte, tatsächlich einen großen Fortschritt bedeutete und der Durchbruch nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Es dauerte dann aber doch noch beinahe acht Monate, bis die Mäuse zur Welt kamen. Einen Umstand hatte Victor nämlich im Eifer des Gefechts übersehen: Die Chancen mochten zwar um einiges größer geworden sein, aber sie waren noch immer so minimal, dass eine gewisse Dosis Glück unentbehrlich blieb.
     
    Zusammengefasst lief es auf Folgendes hinaus.
    542 Zellen bekamen auf mikrochirurgischem Wege einen anderen Zellkern eingepflanzt.
    253 Zellen überlebten den Eingriff.
    48 Zellen verschmolzen mit dem neuen Zellkern.
    16 Zellen entwickelten sich zu einem winzigen Embryo weiter.
    3 Embryos wuchsen zu geklonten Mäusen heran.
     
    ***
     
    Am 31. August 1951 brachte Doktor Karl Hoppe seinen Sohn in das Internat der Brüder der Christlichen Schulen in Eupen, einem Städtchen etwa zwanzig Kilometer südöstlich von Wolfheim.
    »Das wird das Beste für dich sein«, sagte er zu Victor, als sie vor der hölzernen Pforte des Klosters standen.
    Der Gedanke, dass es vielleicht vor allem ihm selbst so am liebsten war, kam ihm zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr. Seit er einmal diesen Entschluss gefasst hatte, hatte er sich selbst beständig eingeredet, er täte es für Victor. Außerdem hätte Johanna es auch so gewollt, hatte er Mal um Mal zu sich gesagt und auf diese Weise seinen Anteil an der Entscheidung heruntergespielt. Deshalb empfand er nun, als es so weit war, auch kein Schuldgefühl mehr. Eigentlich empfand er in jenem Augenblick dort vor der Pforte überhaupt nichts. Es war, als würde er ein Paket abliefern.
    Er hatte Victor vorher nichts gesagt. Auch das war ihm am besten erschienen. Er hatte ihm lediglich gesagt, dass er von nun an zur Schule gehen würde. Erst unterwegs, im Auto, hatte er hinzugefügt, dass er eine Zeitlang in ein Internat kommen würde.
    Schließlich wurden daraus zehn Jahre. Nur die Weihnachts- und die Osterferien sowie jeweils den Julimonat verbrachte Victor in dieser Zeit noch zu Hause.
    »Ich werde dir schreiben«, war das Letzte, was Karl Hoppe zu seinem Sohn sagte, als dieser zum ersten Mal hinter der Pforte verschwand.
    Er schrieb kein einziges Mal.
     
    Alles in allem war das Internat das Beste, was Victor passieren konnte. In der Jungenschule zu wohnen, war für die meisten Kinder die Hölle, für Victor aber, nachdem er anderthalb Jahre bei seinem Vater zugebracht hatte, eine wahre Erleichterung. Die strengen Regeln und die straffe Zeiteinteilung gaben ihm den Halt, den er zu Hause vermisst hatte, aber dringend benötigte. Die Gesänge und Gebete, die Geistlichen in ihren Gewändern, die hohlen Gänge, der große Schlafsaal und das nächtliche Geheul seines von Heimweh geplagten Bettnachbarn, das alles kam Victor bekannt und vertraut vor, sodass er sich kaum einzugewöhnen brauchte. Die Ordnung war ihm wie auf den Leib geschneidert, als dürfe er endlich wieder einen Maßanzug tragen, nachdem er all die Zeit in Kleidung herumgelaufen war, die ihm lose um den Leib schlackerte. Am ersten Tag traf das sogar wörtlich zu: Er musste die Sachen, die er anhatte, gegen eine Uniform eintauschen. Alle anderen Neuzugänge bekamen ebenfalls eine, und während alle anderen an dem neuen Stoff rochen und herumzupften und sich unwohl darin fühlten, setzte Victor sich ruhig an seinen

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