Der Engelmörder - Spindler, E: Engelmörder
Sie das Licht aus?“
„Um elf.“
M.C. hatte Schwierigkeiten, die leise Stimme zu verstehen. „Als Sie das Licht ausmachten, sahen Sie da noch mal nach ihr?“ Sie kannte die Antwort auch so, da der gequälte Gesichtsausdruck der Frau ihr genügte. Obwohl sie mit ihr mitfühlte, musste sie weiterfragen: „Mrs. Vest, hatten Sie gestern Abend Gesellschaft?“
„Gesellschaft?“ Sie wischte sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die verweinten Augen. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Einen Besucher.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nur meine Tochter und ich waren da. Janie, meine Älteste, hat die Nacht bei ihrer besten Freu…“ Abrupt hielt sie inne und sah den Pastor an. „Wie soll … wie soll ich es ihr bloß sagen … sie weiß es doch noch nicht … oh mein Gott!“
M.C. wartete, bis sich die Frau wieder gefasst hatte, erst dann wiederholte sie ihre Frage: „Hatten Sie gestern Abend Besuch?“
„Bitte?“
„Muss das denn jetzt sein?“, ging der Pastor dazwischen. „Ja, es muss sein“, antwortete Kitt besänftigend. „Es tutmir leid.“ Sie kauerte sich vor der Frau hin. „Mrs. Vest, ich weiß, wie schwer Ihnen das jetzt fällt. Aber wir brauchen Ihre Hilfe, damit wir den Täter fassen können. Nur noch ein paar Fragen, ja?“
Die Frau nickte, während sie die Hand des Pastors hielt.
„Auf Ihrem Nachttisch stehen zwei Weingläser, Mrs. Vest“, erklärte M.C. „Hatten Sie wirklich keinen Besuch?“
Einen Moment lang sah die Frau sie an, als verstehe sie gar nicht, dann erst antwortete sie: „Das sind meine Gläser. Ich habe nicht … ich hatte so viel zu tun, dass ich nicht mehr aufgeräumt habe.“
„Haben Sie letzte Nacht irgendwelche Geräusche gehört? Einen Wagen, der vorbeifuhr? Einen bellenden Hund?“
„Nein.“
„Sind Sie in der Nacht irgendwann aufgewacht?“
Wieder verneinte sie.
Kitt schaltete sich nun ein. „Hatte Ihre Tochter davon gesprochen, jemand verfolge sie? Oder hatte sie möglicherweise das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden? Hatte sie vielleicht hier in der Gegend wiederholt irgendeinen Fremden gesehen?“
Bei einem der Opfer des ersten Engelmörders war das der Fall gewesen, ebenso bei dem Beinaheopfer, mit dem die erste Mordserie abschloss.
Als die Mutter auch diese Fragen verneinte, versuchte Kitt es noch einmal. „Ist Ihnen in den letzten Wochen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Eine außergewöhnlich hohe Zahl von Vertretern an der Haustür? Anonyme Anrufer, die gleich wieder aufgelegt haben?“
Nichts. Es war einfach absolut nichts Außergewöhnliches beobachtet worden.
Als sie später gemeinsam das Haus verließen, hielt M.C. Kitt an und fasste sie frustriert am Arm. „Wer ist dieser Typ? Ein Phantom?“
„Er besitzt keine besonderen Fähigkeiten“, erwiderte sie und klang erschöpft. „Nur die, die wir ihm zuschreiben.“
M.C. blieb stehen. „Was soll denn das heißen?“
„Wir alle werden so sehr von unserem hektischen Leben vereinnahmt, dass wir nichts mehr um uns herum wahrnehmen. Wir schlafwandeln, wenn man es so formulieren will. Und darauf verlässt er sich. Wären wir wachsamer, dann könnte er nicht diese Mädch…“ Sie musste schlucken. „Sehen Sie sich die Mutter da drinnen doch an. Sie wünscht sich so sehr, sie könnte eine zweite Chance bekommen. Würde meine Tochter noch leben und ich wüsste von diesem Scheusal, dann würde ich sie gar nicht erst zu Bett bringen, sondern sie direkt in meinem Bett schlafen lassen. Aber das Thema betrifft mich ja nicht mehr, nicht wahr?“
Kitt zitterte am ganzen Leib, ihre Stimme bebte. Im Haus hatte sie sich völlig im Griff gehabt und war ganz Profigewesen, sodass M.C. von dem Schmerz tief in ihrem Inneren nichts bemerken und auch nicht ahnen konnte, wie wenig nur noch fehlte, um diese Beherrschung zum Einsturz zu bringen.
Jetzt dagegen sah M.C., wie es wirklich um Kitt bestellt war, doch sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
Aber Kitt gab ihr gar keine Chance, etwas zu sagen, da sie sich abrupt auf dem Absatz herumdrehte und eilig zu ihrem Wagen ging.
17. KAPITEL
Freitag, 10. März 2006
15:00 Uhr
Kitt saß an ihrem Schreibtisch. Ihr war übel, der Kopf schmerzte, und bei alledem fühlte sie sich, als sei sie den ganzen Morgen einem Geist nachgelaufen, während ihre persönlichen Dämonen ihr auf den Fersen waren. Der Mörder kam ihr vor wie ein übernatürliches Wesen, da er in der Lage zu sein schien, das Unmögliche möglich zu
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