Der Engelmörder - Spindler, E: Engelmörder
über die Lippen kommen.
Es war schrecklich, grotesk.
Mit zitternden Fingern trug er das Lipgloss auf und verschmierte es prompt. Er nahm ein Taschentuch, um die Konturen zu korrigieren, doch seine Finger zitterten weiter so heftig, dass es nur umso schlimmer wurde. Tränen stiegen ihm in die Augen, gegen die er anzukämpfen versuchte.
Darf jetzt nicht weinen. Darf keine Körperflüssigkeit hinterlassen.
Er wich vom Bett zurück, bis er an der Wand angelangt war, wo er sich zu Boden sinken ließ und die Knie an die Brust drückte. Er schlang die Arme um seine Beine, seine Hände schwitzten in den Latexhandschuhen. Ihm war übel, er fühlte sich schwindlig. Der Engel war erwacht. Das Mädchen war aufgewacht und hatte ihn gesehen, es hatte sich vor ihm geängstigt, sich gegen ihn zur Wehr gesetzt. Entsetzen und Gegenwehr hatten die Kleine hässlich werden lassen.
Der Andere würde wütend reagieren, außer sich vor Zorn sein.
Der Andere sah ihm immer zu, urteilte über ihn. Bereit,ihn zu beschimpfen, ihn zu kritisieren.
Er war es leid. Er fühlte sich so müde, so verdammt müde, dass er manchmal glaubte, er könnte seine Augen schließen und würde nie wieder aufwachen.
Was, wenn er das machen würde? Wenn er schlafen ging und niemals wieder wach wurde – so wie die reizenden Engel? Oder wenn er verschwand, wenn er in die Nacht entkam? Was würde der Andere tun? Wie sollte er ohne den Anderen überleben?
Seine Gedanken überschlugen sich, sein Herz raste. Das Zimmer drehte sich ein wenig um ihn. Er ließ den Kopf auf die Knie sinken, um die Kontrolle über sich zurückzuerlangen. Er atmete tief und langsam durch, dachte an all die Dinge, die der Andere ihm gesagt hatte.
Ruhe bewahren. Erst überlegen, dann handeln. Darauf achten, dass keine Spuren zurückblieben.
Der Andere hatte ihm alle Tricks gezeigt. Er wurde ruhiger, je mehr ihm ins Gedächtnis kam. Nach und nach beruhigte sich sein Herz, der Schweiß trocknete auf seiner Haut.
Auf der Uhr auf dem Nachttisch verstrichen die Minuten nur langsam. Er musste warten, damit er die Hände in die richtige Haltung bringen konnte.
Die Hände gehörten ihm, nur ihm allein. Es war wichtig … es war eine Überraschung.
Ja, er hatte damit den Anderen überrascht. Eine gewaltige Leistung, die beinahe übermenschlich war. Dem anschließenden Zorn und den Bestrafungen hatte er getrotzt.
Sonderbarerweise war der Andere am Ende dann aber doch zufrieden gewesen.
Vielleicht würde ihm die Überraschung dieser Nacht ja auch wieder gefallen.
16. KAPITEL
Freitag, 10. März 2006
7:10 Uhr
M.C. parkte den Wagen vor dem flachen Haus, das im Stil einer Ranch gebaut worden war. Die ersten am Tatort eingetroffenen Polizisten hatten das Grundstück weiträumig abgesperrt. Einer von ihnen stand an der Absperrung, der andere war im Haus beim Opfer.
Der Anruf erreichte M.C., als sie gerade aus der Dusche kam. Sie hatte sich nicht mal die Zeit genommen, die Haare zu trocknen. Ihre morgendliche Dosis Koffein war dringend fällig, doch sie würde sich mit dem Becher löslichen Kaffee begnügen müssen, den sie auf dem Weg hierher geholt und getrunken hatte.
Sie stieg aus dem Wagen aus. Sie fröstelte, als ihr die kalte Morgenluft über die nassen Haare strich. Verärgert darüber, dass der Frühling noch immer auf sich warten ließ, schlug sie den Kragen der Jacke hoch.
Tullocks Woods. Sonderbar, dass der Engelmörder – oder vielleicht auch sein Nachahmer – sich ausgerechnet dieses Viertel ausgesucht hatte, das sich so deutlich vom Schauplatz seines vorangegangenen Mordes unterschied. Dieser Stadtteil lag ganz im Westen, wurde von großen Grundstücken und dichten Wäldern geprägt, und er war weit weg vom Rest der Stadt.
Durch dieses Viertel führte keine Hauptstraße, es grenzte nicht einmal an eine solche. Ein fremdes Fahrzeug musste hier einfach auffallen, da man nicht durch, sondern nach Tullocks Woods fuhr.
Einige Freunde aus der Highschool hatten hier gewohnt und im Vereinsheim der Nachbarschaft – dem Pow Wow Club – Partys gefeiert. Einer aus der Clique begann später Krimis zu schreiben.
Ein Mord hier ging ihr eine Spur zu nahe.
Sie warf die Wagentür zu und ging los. Nach ein paar Schritten hörte sie hinter sich Motorengeräusch. Sicher trafen da gerade die Jungs von der Spurensicherung ein. Und Lundgren. Und einer ihrer Vorgesetzten.
M.C. erkannte den ersten Officer vom Schießstand wieder. Jenkins. Sehr jung, ein fantastischer Schütze.
Sie trug sich
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