Der Engelspapst
wohl der Einzige gewesen, dessen Stimme sie von den schlimmsten Gräueltaten abgehalten hätte. Nun, da er nicht mehr war, sah ich jede Hoffnung für Rom schwinden. Und für uns.
Das dümmliche Grinsen Cellinis verriet, dass er die Tragweite seiner eitlen Tat nicht erfasste. Darum sagte ich zu ihm: «Wir müssen beide lernen. Ich schieße, ohne zu zielen, und Ihr, ohne zu denken.»
Ein merkwürdiger Blick traf mich, als brauche der Dummkopf Zeit, meine Worte zu verstehen. Sein Lächeln erstarb. «Ihr seid doch bloß neidisch, Schweizer. Am liebsten würde ich Euch fordern!»
Ich wies über die Brüstung hinaus zur anderen Seite des Flusses. «Fordert lieber die da drüben. Die weisen Euch bestimmt nicht ab.»
«Neidhammel!», keifte er, nahm seine Arkebuse hoch und stiefelte davon.
Ich blickte hinüber zum anderen Ufer des Tibers, wo die Kaiserlichen durch die Gassen strömten und unzählige Häuser in Rauch aufgingen. Mir dämmerte, dass dieser schreckliche sechste Mai erst der Anfang des Übels war. Doch ahnte ich nicht, welche Gefahren vor mir lagen und dass dieser Geck Cellini in meinem Abenteuer eine wichtige Rolle spielen sollte.
5
Mittwoch, 6. Mai
Irgendein kritischer Geist hatte einmal gesagt, wenn diese Halle den Eingang zum Himmelreich darstelle, dann brauche Gott dringend einen neuen Architekten. Von außen betrachtet wirkte die Nervi-Halle wie ein Kinoalbtraum von Steven Spielberg. Ein gigantisches Raumschiff schien zur Erde niedergeschwebt zu sein und den Vatikan als Landeplatz auserkoren zu haben. Die Ausmaße der Halle waren so gewaltig, dass sie mit zwei Dritteln ihrer Grundfläche über die Grenzen des vierundvierzig Hektar kleinen Stadtstaates hinausragte. Kalt, streng und funktional hoben sich ihre Mauern von den übrigen Gebäuden der Vatikanstadt ab. Das Vorhaben des Architekten Pierluigi Nervi, die von Papst Paul VI. in Auftrag gegebene größte Audienzhalle der Welt in ihr altehrwürdiges Umfeld zu integrieren, war gründlich fehlgeschlagen.
Den Pilgern, die sich in bis weit auf den Petersplatz reichenden Schlangen geduldig auf die Halle zubewegten, war das gleichgültig. Ihnen ging es einzig und allein darum, die erste Generalaudienz des neuen Papstes mitzuerleben. Petrus war gnädig mit den Schäfchen seines Nachfolgers: Seit einer Viertelstunde regnete es nicht mehr und durch die Lücken in der aufgerissenen Wolkendecke blitzten sogar ein paar vorsichtige Sonnenstrahlen.
Obwohl der Andrang in Anbetracht des neu gewählten Papstes und der Schlagzeilen über den Rosin-Mord besonders groß war, herrschte Routine vor. Straßenhändler, die Erfrischungen oder billigen religiösen Andenkenkitsch feilboten, klapperten die Menschenschlangen ab. Hin und wieder tauchten junge Männer und Frauen in den Schlangen ein, um Sekunden später einen Taschendieb in Handschellen zu einem der Polizeitransporter zu führen, die am Rand des Platzes standen.
Auch das war nichts Besonderes. Der Petersplatz gehörte zwar zum Staatsgebiet des Vatikans, aber aufgrund einer in den Lateranverträgen festgehaltenen Vereinbarung mit der italienischen Regierung sorgte hier die italienische Polizei für Sicherheit. Bewaffnete Uniformierte sollten ganz direkt abschreckend wirken, während ihre Kollegen in Zivil die unvermeidliche Plage der Taschendiebe bekämpften.
Vor dem Eingang der Audienzhalle suchten Angehörige der Vigilanza die Taschen der Pilger nach Waffen ab. Jeder musste seine Eintrittskarte vorweisen. Stichprobenartig verlangten die Vigilanzamänner das Vorzeigen der Pässe und überprüften, ob Name, Geburtsdatum und Passnummer auf der Eintrittskarte mit denen auf dem Ausweis übereinstimmten. Jeder, der an einer Generalaudienz des Papstes teilnehmen wollte, musste sich mindestens einen Tag vorher unter Angabe seiner Personalien um eine Eintrittskarte bemühen. Der Vatikan gab die Daten an die italienische Polizei weiter, und die schickte sie auf der Suche nach Terroristen und gewalttätigen Psychopathen durch ihre Fahndungscomputer.
Sobald sie die Kontrollposten passiert hatten, betraten die Gläubigen und die Neugierigen das Innere der Audienzhalle. Sie war einst zur Entlastung des Petersdoms gebaut worden, doch hatte sie mit einer Kirche wenig gemein. Einzig das bunte Glas der beiden ovalen Fenster in den Längswänden verbreitete einen Hauch alter Kirchenbaukunst. Ansonsten wirkte die weiträumige Konstruktion aus Spannbeton von innen genauso kalt und funktional wie von außen.
Zu beiden Seiten
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