Der Engelspapst
Geistlichen lösten immer wieder allzu fest zupackende Hände von den Armen des Papstes und schoben den Heiligen Vater mit sanfter Gewalt vorwärts.
Nach einer halben Stunde erreichte Custos endlich die Bühne.
Als er auf dem Thron Platz nahm, verebbte das ohrenbetäubende Rufen, Singen und Händeklatschen. Gespannte Erwartung machte sich breit – unter den Gläubigen, den Journalisten und den hohen Geistlichen, die zu beiden Seiten des Papstthrons auf der Bühne saßen. Rechts des Papstes hatten auch von Gunten, Parada und Tessari Platz genommen. Alexander nahm an dieser Seite Aufstellung, Utz links vom Thronpodest. Auf dem Podest saßen Musolino zur Rechten und der Kardinalprotodiakon Gianfranco Tamberlani zur Linken des Heiligen Vaters.
Shafqat stand schräg hinter dem Thron und wollte dem Papst eine Hand voll Papiere reichen, Unterlagen für die Rede, aber Custos wies sie lächelnd zurück. Als er zu sprechen begann, sorgten die vor ihm aufgestellten Mikrofone dafür, dass seine Worte auch in der hintersten Ecke der gewaltigen Halle gehört wurden.
«Brüder und Schwestern, meine Kinder, mit freudigem Herzen habe ich euren Jubel und eure Begeisterung vernommen. Doch der heutige Tag erfüllt mich auch mit Trauer. Es ist der sechste Mai, der Tag des Sacco di Roma. Damals, an jenem verhängnisvollen sechsten Mai im Jahre des Herrn 1527, wurden Rom und der Heilige Stuhl ein Opfer von Hass und Gewalt. Heute will ich nicht von der Vernichtung so vieler wertvoller Kunstschätze sprechen und auch nicht vom grausamen Tod zahlreicher unschuldiger Frauen und Kinder, die den Plünderern in die Hände fielen. Sie alle haben unser ewiges Andenken verdient, doch ein schrecklicher Vorfall in jüngster Zeit lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Verteidiger der Freiheit der Kirche, auf die tapferen Männer der Schweizergarde.»
Auf dieses Stichwort schienen die Vertreter von Fernsehen und Presse nur gewartet zu haben. Sie drängten an die Bühne, und Alexander hatte das unbehagliche Gefühl, dass diesmal er, Utz und von Gunten die Objekte ihrer Begierde waren. Doch er ließ sich vom Blitzlichtgewitter nicht irritieren, verzog keine Miene und sah stur geradeaus in den Zuschauerraum.
«Treue bis in den Tod haben die Schweizergardisten dem Heiligen Vater geschworen», fuhr der Papst fort. «Beim Sacco di Roma haben sie bewiesen, wie ernst es ihnen damit ist.
Hundertsiebenundvierzig Schweizer ließen ihr Leben, darunter ihr Hauptmann Kaspar Röist. Haben die Menschen seit jenen blutrünstigen Tagen etwas dazugelernt? Keine Woche ist es her, dass wieder ein Kommandant der Schweizergarde auf grausame, blutige Weise sein Leben verloren hat. Diesmal sieht es nicht so aus, als sei er für den Heiligen Stuhl gestorben. Einer seiner eigenen Männer soll der Täter sein, dienstliche Misshelligkeiten das Motiv. Ist der Tod von Oberst Heinrich Rosin deshalb weniger bedeutsam als der von Kaspar Röist?»
Custos legte eine bedeutungsschwere Pause ein, bevor er selbst die Antwort gab: «Ich sage nein, im Gegenteil. Wenn Oberst Rosin von einem seiner Untergebenen getötet wurde, dann zeugt diese schreckliche Tat davon, dass Unfriede und Uneinigkeit unsere Welt in Klauen halten. Klauen, die sogar tief in die christliche Kirche gefahren sind. In jenen wüsten Tagen, da Rom der Zerstörung anheim fiel, wurde noch etwas viel Wichtigeres zerstört: die Einheit der Kirche. Es kam zu einer Spaltung, die bis heute fortbesteht. Eine Welt, in der ein Christ nicht neben dem anderen steht und in der ein Schweizergardist den anderen mordet, kann nicht von Gott gewollt sein. Aber aus Zerstörung und Verzweiflung vermag Neues zu erwachsen. Die Plünderung Roms hat die Zeichen für eine Erneuerung der Kurie gesetzt, und die schreckliche Mordtat in den alten Mauern des Vatikans soll für uns alle ein Zeichen zur Besinnung und Umkehr sein. Dass der Bruder den Bruder und die Schwester die Schwester nicht ansieht, muss endlich ein Ende haben. Die Spaltung der christlichen Kirche, ein halbes Jahrtausend alt, muss überwunden werden. Und vielleicht wird die Wiedervereinigung der Christen ein Zeichen für die ganze Welt sein, nicht länger im Hass gegen andere Rassen und andere Glaubensrichtungen zu verharren.
Darum verspreche ich an dieser Stelle, alles dafür zu tun und jedes Opfer zu erbringen, um innerhalb meiner Amtszeit die christliche Kirche wieder zu vereinigen!»
Der einsetzende Jubel war groß, aber durchaus nicht alle frohlockten. Viele der hohen
Weitere Kostenlose Bücher