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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Miriamels Mutter, wieder ins Leben zurückrufen zu können. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, ihren Vater von der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens zu überzeugen, wenn sich nur die Gelegenheit findet, mit ihm zu sprechen. Josua hat ihr diesen Wunsch aber aus Sorge um ihre Sicherheit abgeschlagen. Darum will sie nachts heimlich fliehen. Simon, den sie inzwischen als ihren Ritter angenommen hat, ertappt sie jedoch dabei und besteht darauf, sie zu begleiten. Noch in derselben Nacht reiten die beiden fort.
    Kurz darauf dringen Utuk’kus Klauen ins Lager ein. Nur Aditu spürt ihre Anwesenheit und eilt, gefolgt von Geloë, den Menschen zu Hilfe.



1
Tränen und Rauch

    ie baumlose Öde des Hoch-Thrithings erschien Tiamak bedrückend. Auch Kwanitupul war nicht jedermanns Sache, aber es war ein Ort, den er seit seiner Kindheit kannte und dessen verfallende Gebäude und allgegenwärtige Wasserwege ihn zumindest an seine Marschheimat erinnerten. Selbst Perdruin, wo er eine Zeitlang in einsamer Verbannung gelebt hatte, war so reich an eng aneinandergelehnten Mauern und schmalen Durchlässen, so voll von düsteren Schlupfwinkeln und so getränkt vom Salzgeruch der See, dass Tiamak dort mit seinem Heimweh fertigwerden konnte. Hier im Grasland jedoch fühlte er sich ausgeliefert, schutzlos und ganz und gar fremd. Es war kein angenehmer Zustand.
    Sie-die-wachen-und-gestalten haben mir wirklich ein sonderbares Leben beschert, dachte er oft. Vielleicht das sonderbarste, das je einem Menschen meines Volkes zuteilwurde, seit Nuobdig einst die Feuerschwester zur Frau nahm.
    Manchmal fand er Trost in diesem Gedanken. Für solche ungewöhnlichen Erlebnisse auserkoren zu sein war in gewisser Weise eine Art Entschädigung für die vielen Jahre, in denen sein eigenes Volk und die Trockenländer von Perdruin ihn verkannt hatten. Natürlich verstanden sie ihn nicht – er war anders als andere: Welcher Wranna konnte wie er die Sprachen der Trockenländer sprechen und lesen? Aber in letzter Zeit, seitdem er wieder von Fremden umgeben war und nicht wusste, was aus seinen eigenen Leuten geworden war, erfüllte ihn diese Vorstellung mit Einsamkeit. Dann pflegte er, verstört von der Leere der unheimlichen Landschaft des Nordens, hinab zum Fluss zu gehen, der mitten durch das Lager floss. Dort setzte er sich hin und lauschte den vertrauten, beruhigenden Geräuschen der Wasserwelt.
    So auch heute. Trotz der Kälte von Wasser und Wind hatte er die braunen Füße in den Stefflod hängen lassen und war, wieder ein wenig zuversichtlicher, auf dem Rückweg zum Lager, als plötzlich eine Gestalt an ihm vorbeischoss. Helles Haar wehte hinter ihr her, als sie schnell wie eine Libelle – und weit rascher, als ein Mensch es könnte – dahinzufliegen schien. Nur eine Sekunde konnte Tiamak der flüchtigen Erscheinung nachstarren, bevor eine zweite dunkle Gestalt an ihm vorbeisauste: ein Vogel, der so nah am Boden flog, als jage er die Voranrennende.
    Die beiden verschwanden oben am Hang. Sie steuerten genau auf die Mitte des prinzlichen Lagers zu. Tiamak stand da wie vom Donner gerührt. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff, wer da an ihm vorübergelaufen war.
    Die Sithafrau, von einem Falken gejagt – oder war es eine Eule?
    Er wurde nicht klug daraus, aber aus der Sitha – Aditu hieß sie – war er bisher ohnehin nicht klug geworden. Sie war anders als alles, was ihm je zuvor begegnet war, und im Grunde hatte er ein wenig Angst vor ihr. Aber wovor floh sie? Ihrem Gesichtsausdruck nach musste etwas Furchtbares sie verfolgen.
    Oder es lag etwas Schreckliches vor ihr, fiel ihm plötzlich ein. Sein Magen krampfte sich zusammen. Sie war zum Lager gelaufen.
    Du-der-stets-auf-Sand-tritt, betete Tiamak, als er sich in Trab setzte, beschütze mich – beschütze uns alle vor dem Bösen! Sein Herz begann schneller zu schlagen, schneller noch als die rennenden Füße. Was für ein unheilvolles Jahr!
     
    Als er den äußersten Rand des weiten, zeltbedeckten Feldes erreicht hatte, war er im ersten Augenblick beruhigt. Alles war still. Nur noch wenige Lagerfeuer brannten. Gleich darauf wurde ihm klar, dass es zu still war. Zwar war der Abend schon fortgeschritten, die Mitternacht jedoch noch fern. Es hätten noch Menschen zu sehen, oder Geräusche von den noch nicht Schlafenden zu hören sein müssen. Irgendetwas stimmte nicht.
    Es war schon wieder ein paar Augenblicke her, seit er den dahinjagenden Vogel – er war jetzt sicher, dass es eine Eule gewesen

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