Der Engelsturm
ins Feuer. »So viele waren sie, quollen aus dem Boden wie Würmer. Und immer mehr kamen heraus. Mehr und mehr.«
»Du hast gesagt, da war ein Tunnel. Vielleicht gibt es noch andere Tunnel.« Miriamel wunderte sich selbst über die unwirkliche Gelassenheit in ihrer Stimme. »Vielleicht ist er nur in einen anderen Tunnel gefallen. Wenn diese Bestien, diese … Gräber … weg sind, können wir ihn suchen.«
»Ja, mit Gewissheit.« Binabiks Tonfall war ausdruckslos.
»Wir finden ihn, du wirst sehen.«
Der Troll fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Blut und Erde klebten daran. Geistesabwesend starrte er darauf.
»Im Lederschlauch ist Wasser«, sagte Miriamel. »Lass mich die Schnitte auswaschen.«
»Du blutest auch.« Binabik zeigte mit einem kurzen schwarzen Finger auf ihr Gesicht.
»Ich hole das Wasser.« Sie stand unsicher auf. »Wir finden Simon, verlass dich darauf.«
Binabik antwortete nicht. Als Miriamel auf das Gepäck zuschwankte,hob sie die Hand zum Kinn, um die Kratzer zu betasten, die ihr die Klauen des Gräbers zugefügt hatten. Das Blut war schon fast trocken, aber als sie ihre Wange berührte, war die Haut nass von Tränen – Tränen, von denen sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie sie weinte.
Er ist tot , dachte sie. Tot.
Halbblind vor Tränen, wäre sie um ein Haar gestolpert.
Elias, Hochkönig von Osten Ard, stand am Fenster und starrte auf den bleich erhobenen Finger des Engelsturms, der im Mondlicht silbrig schimmerte. In Schweigen gehüllt schien der Turm ein Phantom aus einer anderen Welt zu sein, ein Träger seltsamer, alter Geheimnisse. Elias betrachtete ihn, wie ein Seemann das Meer betrachtete, auf dem er leben oder sterben wird.
Das Gemach des Königs war schmutzig wie die Höhle eines Tieres. Das Bett in der Mitte des Raums wies nichts als einen verschwitzten Strohsack auf; die wenigen noch vorhandenen Decken lagen zerknäult auf dem Boden, unbenutzt, ein Schlupfwinkel der wenigen Insekten, die es in der eisigen Luft aushielten, nach der es den König verlangte.
Das Fenster, an dem der König stand, war wie alle anderen Fenster des langgestreckten Raums weit geöffnet. Auf den Steinplatten unter den Fensterrahmen hatten sich Regenpfützen gebildet, die in besonders kalten Nächten zufroren und weiße Streifen auf dem Fußboden hinterließen. Der Wind hatte Blätter und Zweige und sogar die erstarrte Leiche eines Sperlings hereingeweht.
Elias beobachtete den Turm, bis der Mond den grünen Engel auf der Turmspitze wie ein übergroßer Heiligenschein umgab. Dann erst drehte er sich um und zog das zerfetzte Gewand enger um seinen Körper. Durch die offenen Stellen, an denen die Fäden in ihren Nähten verfault waren, leuchtete seine weiße Haut.
»Hengfisk«, flüsterte er, »meinen Becher.«
Etwas, das wie ein weiterer, in eine Ecke des Raums gestopfter Haufen Bettzeug ausgesehen hatte, erhob sich und kam auf die Füße.Der stille Mönch eilte zu einem Tisch gleich neben der Tür des Gemachs und nahm den Deckel von einem darauf stehenden Steinkrug. Er füllte einen Pokal mit dunkler, dampfender Flüssigkeit und kredenzte ihn dem König. Das ständige Lächeln des Mönchs, vielleicht nicht ganz so breit wie sonst, glomm matt im dunklen Zimmer.
»Ich werde heute Nacht nicht mehr schlafen«, sagte der König. »Es sind die Träume, weißt du.«
Hengfisk stand schweigend da, aber in seinen hervorquellenden Augen lag gespannte Aufmerksamkeit.
»Und da ist noch etwas. Etwas, das ich fühle, aber nicht verstehen kann.« Elias griff nach dem Pokal und ging wieder ans Fenster. Der Griff des grauen Schwertes Leid kratzte über den steinernen Boden. Elias hatte es seit langer Zeit nicht mehr abgenommen, nicht einmal zum Schlafen. Auf dem Strohsack hatte die Klinge neben dem Abdruck der königlichen Gestalt ihren eigenen Umriss hinterlassen.
Elias führte den Becher an die Lippen, trank und seufzte.
»Die Musik hat sich verändert«, sagte er leise. »Die große Musik des Dunkels. Pryrates hat mir nichts davon gesagt, aber ich weiß es. Ich brauche diesen Eunuchen nicht, damit er mir jedes Wort ins Ohr bläst. Ich kann jetzt Dinge sehen und hören … Dinge riechen …« Er wischte sich mit dem Ärmel seines Gewandes den Mund ab und hinterließ einen neuen schwarzen Streifen zwischen den unzähligen anderen, die schon auf dem Stoff getrocknet waren. »Irgendjemand hat die Ordnung der Dinge umgestoßen.« Er schwieg einen langen Augenblick. »Aber vielleicht verbirgt es Pryrates
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