Der Engelsturm
Inneren seines Körpers regte wie ein Wesen mit lauter winzigen, raschelnden Schuppen und krabbelnden Krallen.
Vielleicht hatte er sich hier unten verirrt, ermunterte er sich selbst, aber wenigstens war er nicht tot. Er hatte schon früher in solchen Tunneln gesteckt und es geschafft, wieder ans Sonnenlicht zu klettern. Außerdem war er jetzt älter und hatte Dinge gesehen, die nur wenige andere Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Irgendwie würde er überleben. Und wenn nicht? Dann würde er seinem Ende gefasst entgegensehen.
Tapfere Worte, Mondkalb, spottete eine innere Stimme. Tapfere Worte – jetzt. Aber nach einem sonnenlosen Tag und einer mondlosen Nacht ohne Wasser? Wenn die Fackel erlischt? Sei still, befahl er der inneren Stimme.Simon sang leise vor sich hin. Der Hals tat ihm weh, aber er hatte das eintönige Klicken seiner Absätze auf dem Stein satt. Hinzu kam, dass ihm von dem Geräusch ganz elend und einsam zumute war.
Herr Johan stieg ins dunkle Loch,
wo grimm der Feuerdrache jagt,
in Höhlen tief, zu Kröt und Troll,
wohin noch keiner sich gewagt …
Er runzelte traurig die Stirn. Wenn es doch Trolle hier gäbe! Für Binabiks Gesellschaft hätte er alles geopfert – ganz zu schweigen von einem vollen Wasserschlauch und einem kräftigen Schluck Kangkang . Und wenn Priester Johan wirklich nur ein Schwert mit ins Erdinnere genommen hatte, was ja in Wirklichkeit gar nicht stimmte – war nicht der Hernystiri Eolair auf den Sesuad’ra gekommen, nur um ihnen zu erzählen, dass Johan Minneyar dort unten irgendwo gefunden wurde und einen Speer bei sich gehabt hatte? –, also wenn er tatsächlich sonst nichts mitgenommen hatte, ob nun Schwert oder Speer, wie stand es dann mit dem Licht? Simon besaß eine einzige Fackel, deren Flamme schon ein bisschen dünn auszusehen begann. Es war ja alles sehr schön, dieses Herumstolzieren und Festauftreten und Nachdrachensuchen, aber in den Liedern war nie so recht die Rede von Essen und Wasser und davon, wie man Feuer anmachen sollte.
Alte Wiegenlieder und verschollene Schwerter und Tunnel in der schwarzen, stinkenden Erde. Wie war es nur gekommen, dass diese Dinge jetzt im Mittelpunkt seines Daseins standen? Als er einst um ritterliche Abenteuer betete, hatte er auf Edleres gehofft – Schlachtfelder, eine glänzend polierte Rüstung, Heldentaten, die Liebe der Menge. Zwar hatte er das alles – mehr oder weniger – auch bekommen, aber nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Und immer wieder hatte es ihn zurückgeworfen in dieses Tollhaus voller Schwerter und Tunnel, als würde er gezwungen, ein Kinderspiel immer weiterzuspielen, dessen er doch schon so lange müde war …
Er stieß mit der Schulter gegen die Wand und wäre fast hingefallen. Die Fackel entsank seinem Griff und blieb auf dem Tunnelbodenliegen. Simon starrte sie einen Moment stumpfsinnig an, bis er jäh wieder zu sich kam. Er riss sie hoch und umklammerte sie so fest, als hätte sein Licht vor ihm fliehen wollen.
Mondkalb.
Schwerfällig setzte er sich hin. Er war erschöpft vom Laufen, von der öden Leere, von der Einsamkeit. Der Tunnel zog sich nun durch unregelmäßig geformte Felsblöcke. Wahrscheinlich bedeutete das, dass er sich tief in den Gebeinen des Swertclifs befand. Sein Weg schien hinabzuführen zum Mittelpunkt der Erde.
Etwas in seiner Tasche scheuerte an seinem Bein und erregte so seine Aufmerksamkeit. Was schleppte er da eigentlich mit sich herum? Seit Stunden, kam es ihm vor, schlurfte er nun schon durch diese Gänge und hatte sich noch nicht einmal darum gekümmert, was er bei seinem Sturz durch die bröckelnde Erde bei sich trug.
Er leerte die auf seine Hose genähten Taschen aus, wobei er immer wieder zusammenzuckte und leise aufstöhnte, so sehr brannten die aufgeschürften Finger. Durch die verspätete Inventur war ihm nicht viel entgangen. Er fand einen runden, glatten Stein, den er aufgesammelt hatte, weil er gut in der Hand lag, und die fast unkenntliche Gürtelschnalle, von der er gedacht hatte, er habe sie weggeworfen. Jetzt beschloss er, sie zu behalten. Vielleicht konnte er sie zum Kratzen oder Graben verwenden.
Der einzige wichtige Fund war ein Stück getrocknetes Fleisch vom gestrigen Mittagessen. Sehnsüchtig betrachtete er den zusammengeschrumpften Streifen, der kaum länger und breiter war als sein Finger, und steckte ihn dann wieder ein. Er hatte das Gefühl, ihn später noch dringender zu brauchen als im Augenblick.
So weit seine Taschen.
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