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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Der goldene Ring, den ihm Morgenes geschickt hatte, steckte noch an seinem Finger, wenn auch unter einer dicken Schmutzschicht fast unsichtbar. Aber welchen Sinn und Nutzen er auch in der Welt des Sonnenlichts besitzen mochte, hier unten war er wertlos. Simon konnte ihn nicht essen, und Feinde würde er auch nicht abschrecken. In der an seinem Bein festgebundenen Scheide steckte noch das Qanucmesser. Zusammen mit der Fackel bildete es seine einzige Verteidigung. Sein Schwert lag irgendwo über der Erde – bei Binabik und Miriamel, sofern sie den Gräbernentkommen waren –, ebenso sein Weißer Pfeil, der Mantel, die Rüstung, der ganze Rest seiner mageren Habe. Er stand mit fast so leeren Händen da wie vor etwa einem Jahr, als er aus der Burg geflohen war. Und wieder befand er sich in der schwarzen Erde.
    In der Erde, die ihn erstickte …
    Hör auf, ermahnte er sich. Was hat Morgenes immer gesagt? ›Nicht, was man in den Händen hat, zählt, sondern das, was im Kopf steckt.‹ Das ist doch immerhin etwas. In meinem Kopf steckt inzwischen entschieden mehr als damals.
    Aber was nützt mir das, wenn ich verdurste?
    Er rappelte sich auf und ging weiter. Zwar hatte er keine Ahnung, wohin der Tunnel führte, aber irgendwo musste er ja enden, er musste einfach. Die Möglichkeit, dass er in dieser Richtung so aufhören würde wie auf der anderen Seite, in einer undurchdringlichen Wand aus heruntergestürztem Erdreich oder Geröll, war etwas, an das er lieber gar nicht dachte. Wieder, diesmal leiser, fing er an zu singen.
     
    Der junge König stieg hinab,
    der Feuerdrache lauert dort.
    Wer weiß, wohin der König ging?
    Der Drache hütet goldnen Hort …
     
    Es war seltsam. Simon hatte nicht das Gefühl, den Verstand verloren zu haben, aber trotzdem hörte er Dinge, die nicht da waren. Das Geräusch plätschernden Wassers war zurückgekehrt, schien aber jetzt, lauter und kräftiger als zuvor, von allen Seiten zu kommen, als schritte er durch den Vorhang eines Wasserfalls. Darunter mischte sich, im Zischen und Spritzen kaum auszumachen, das Gemurmel einiger Stimmen.
    Stimmen! Vielleicht sind doch Quergänge in der Nähe. Vielleicht führen sie zu Menschen. Zu wirklichen, lebendigen Menschen!
    Die Stimmen und die Töne des Wassers begleiteten ihn eine Zeitlang, ohne ihren Ursprung preiszugeben. Dann verstummten sie und ließen ihn mit dem Geräusch seiner Schritte allein.
    Verwirrt und müde, voller Angst vor dem, was die gespenstischen Laute bedeuten könnten, wäre Simon um ein Haar in ein Loch imTunnelboden getreten. Er stolperte, fing sich wieder, stützte sich mit der Hand gegen die Wand und schaute nach unten. Aus der Tiefe schien ihm das Licht einer anderen Fackel entgegenzuleuchten, und Simon wollte das Herz stillstehen.
    »Wer … wer ist …« Als er sich vorbeugte, schien ihm das Licht entgegenzusteigen.
    Ein Spiegelbild. Wasser.
    Simon sank in die Knie und beugte sich zu dem kleinen Teich hinunter, stockte aber, als der Geruch ihm in die Nase stieg, ölig und unangenehm. Er tauchte die Finger hinein und zog sie wieder heraus. Das Wasser schien eigenartig glitschig auf seiner Haut. Um besser sehen zu können, hielt er die Fackel daneben. Eine Stichflamme sprang empor und schlug ihm lodernd ins Gesicht; vor Schreck und Schmerz aufschreiend, taumelte er rückwärts. Für einen Moment schien es, als habe die ganze Welt Feuer gefangen.
    Simon setzte sich mit gespreizten Beinen hin, hob die Hand an die Wange und betastete vorsichtig seine Züge. Die Haut war so empfindlich, als hätte er sich zu lange in der Sonne aufgehalten, und seine Barthaare waren hart und kraus geworden, aber es schien sich noch alles am richtigen Platz zu befinden. Als er nach unten sah, tanzte in dem Tümpel im Tunnelboden eine Flamme.
    Usires Ädon! , fluchte er stumm. Mondkalbpech! Ich finde Wasser, und es gehört zu der Sorte, die brennt – was für eine Sorte das auch sein mag.
    Eine Träne rann ihm über die heiße Wange. Die Flüssigkeit in dem kleinen Teich brannte fröhlich weiter. Simon war so enttäuscht, dass sein Trinkwasser sich als ungenießbar erwiesen hatte, dass er lange nicht begriff, was da vor ihm lag. Endlich fiel ihm eine Bemerkung von Morgenes ein.
    Perdruinesisches Feuer – das muss es sein. Der Doktor hat gesagt, man findet es in Höhlen. Die Leute von Perdruin stellen Kugeln für ihre Schleudern daraus her, werfen sie auf ihre Feinde. Es war die Art von Geschichtsstunde gewesen, bei der Simon genau aufgepasst

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