Der Engelsturm
um zu überlegen, wo er sich befand. Bestimmt steckte er irgendwo tief unterhalb des Swertclifs. Man konnte nicht so lange und so stetig nach unten steigen, ohne unter den Berg selbst zu geraten. Andererseits hatte der Weg so viele Windungen gemacht, dass er unmöglich ermessen konnte, unter welchem Stück der Oberwelt er jetzt angekommen war. Er würde sich einfach entscheiden müssen und dann sehen, wie es weiterging.
Wenn ich immer dieselbe Richtung nehme, kann ich wenigstens den Weg zurück finden.
Ohne besonderen Grund entschloss er sich, den Tunnel zur Linken zu wählen. Von dort aus wollte er dann immer nur nach links abbiegen. Falls er diese Entscheidung bereute, brauchte er nur kehrtzumachen und sich so lange rechts zu halten, bis er wieder hier ankam. Er ging also nach links und stolperte weiter.
Zuerst schien sich der Tunnel in nichts von dem, den er verlassen hatte, zu unterscheiden: eine Röhre aus unregelmäßigen Steinen und Erde ohne Anzeichen eines bestimmten Gebrauchs oder Zwecks. Wer hatte diese finsteren Löcher gebohrt? Menschen oder menschenähnliche Wesen mussten es gewesen sein, denn an manchen Stellen konnte er deutlich sehen, dass man den Felsen behauen oder abgeschlagen hatte, um dem sich dahinschlängelnden Gang Raum zu schaffen.
Simons Durst und seine ausweglose Einsamkeit waren so groß, dass ihm die Stimmen erst auffielen, als sie plötzlich von allen Seiten auf ihn einflüsterten. Diesmal spürte er zugleich etwas wie eine Bewegung – ein Zupfen an seinen Kleidern wie von Wind, dahineilende Schatten, die das Licht im Tunnel zum Flackern brachten. Die Stimmen klagten leise in einer Sprache, die er nicht verstand. Wenn sie an ihm vorbeischwebten oder sogar durch ihn hindurch, empfand er traurige Kälte. Sie waren … in gewisser Weise … Erinnerungen. Sie waren verlorene Gestalten und Gefühle, die sich aus ihrer eigenen Zeit gelöst hatten. Er bedeutete ihnen nichts, und sie, so verwirrend sie auch waren, hatten keine Bedeutung für ihn.
Wenn ich nicht einer von ihnen werde. Furcht stieg in ihm auf. Wenn nicht eines Tages irgendein anderes wanderndes Mondkalb fühlt, wie einSimon-Schatten es streift und dabei murmelt »verloren, verloren, verloren« …
Es war ein grauenvoller Gedanke, der ihn, auch nachdem das Schneegestöber der körperlosen Schemen vorbeigehuscht war und die Stimmen schwiegen, lange nicht verließ.
Noch dreimal war er abgebogen, jedes Mal nach links, als sich seine Umgebung plötzlich änderte.
Simon hatte schon daran gedacht umzukehren – die letzte Abzweigung hatte ihn zu einem Tunnel geführt, der sich jetzt steil nach unten senkte –, als ihm die Flecken an den Wänden auffielen. Er hielt die Fackel daran und sah, dass die Ritzen zwischen den Steinen voller Moos waren. Moos – das hieß, dass Wasser in der Nähe sein musste. Er war so ausgedörrt, dass er eine verfilzte Handvoll abriss und in den Mund steckte. Versuchsweise kaute er einige Male darauf herum, dann würgte er es hinunter. Die Galle stieg ihm bis in den Hals, und für einen Augenblick glaubte er, sich übergeben zu müssen. Es schmeckte entsetzlich bitter, aber es enthielt Feuchtigkeit. Wenn es sein musste, konnte er es essen und so wahrscheinlich eine Weile am Leben bleiben. Aber er betete, dass sich eine andere Möglichkeit bot.
Er starrte noch auf die winzigen Wedel und wusste nicht recht, ob er eine zweite Portion davon hinunterbrächte, als ihm an der Stelle, von der er die erste Handvoll abgekratzt hatte, blasse Markierungen auffielen. Er kniff die Augen zusammen und leuchtete mit seiner Fackel. Kein Zweifel, das waren die Überreste eines Musters – große, gebogene Linien und verwitterte Muster, die vielleicht Blätter oder Blüten dargestellt hatten. Die Zeit hatte sie fast vollständig abgetragen, aber sie hatten etwas von der geschwungenen Anmut der Steinarbeiten, die er in Da’ai Chikiza und auf dem Sesuad’ra gesehen hatte. Ein Werk der Sithi? War er so schnell so tief geraten?
Er schüttelte den Kopf. Zu viele Fragen. Die einzigen, auf die es ankam, lauteten: Wo konnte er Wasser finden – und welcher Weg führte nach draußen?
Obwohl er im Weitergehen aufmerksam die Wände prüfte, folgte auf seine Entdeckung des Mooses zunächst nichts Bemerkenswertesmehr. Der Tunnel wurde breiter, und die beiden nächsten Gänge, die er wählte, waren kunstvoller gebaut als die vorhergehenden, mit symmetrischen Wänden und ebenen Fußböden. Als er die dritte Abzweigung
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