Der Engelsturm
nach allen Seiten spritzten. Simon, noch immer ein machtloser, aber gebannter Zuschauer, bemerkte, dass die Augen des Mannes voller Tränen standen und sein jugendliches Gesicht zu einer Grimasse von Schmerz und Grauen verzerrt war.
Endlich teilte sich das letzte Fleisch, und die Klaue fiel herunter. Zitternd wie ein verängstigtes Kind steckte der Mann das Schwert in den Gürtel und lud sich dann die mächtige Klaue auf die Schulter wie eine Rinderhälfte. Noch immer mit todunglücklicher Miene stolperte er aus der Höhle und verschwand im Tunnel.
»Er hat die Geister der Sithi gespürt«, flüsterte der Engel Simon zu, der die Qualen des Mannes so heftig mitempfunden hatte, dass die Stimme ihn erschreckte. »Er fühlte, dass sie ihn für seine Lüge verachteten.«
»Ich verstehe nicht.« Etwas kitzelte sein Gedächtnis, aber er schwebte schon so lange im Grau … » Wer war das? Und wer war der andere … das Skelett, der Mann, der den Drachen wirklich getötet hat?«
»Das ist ein Teil deiner Geschichte, Simon.« Plötzlich war die Höhle verschwunden, und sie waren wieder vom Nichts umgeben. »Ich muss dir noch viel zeigen … und habe so wenig Zeit.«
»Aber ich verstehe das alles nicht!«
»Dann müssen wir noch tiefer gehen.«
Das Grau wogte und löste sich in eine der anderen Visionen auf, die Simon während seines Schlafs auf der Tan’ja-Treppe erschienen waren.
Vor ihm öffnete sich ein großes Zimmer. Nur wenige Kerzen spendeten Licht, und die Ecken waren voller Schatten. Der einzige Bewohner saß in einem hochlehnigen Sessel mitten im Raum, umgeben von überall verstreuten Büchern und Schriftrollen. Simon hatte diesen Mann in seinem Traum auf der Treppe schon einmal gesehen. Wie damals hatte er ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß. Er mochte die mittleren Jahre bereits überschritten haben, aber in den ruhigen, nachdenklichen Zügen waren noch immer Spuren des Kindes zu bemerken, das er einst gewesen war, eine unschuldige Güte, von der ein langes, hartes Leben ihm nur wenig genommen zu haben schien. Sein Haar war weitgehend ergraut, zeigte aber noch immer ein paar dunkle Strähnen, der kurze Bart war überwiegend hellbraun geblieben. Auf seiner Stirn saß ein Reif. Die Kleidung, wenn auch einfach geschnitten, war sorgfältig genäht und von gutem Stoff.
Wie bei dem Mann in der Drachenhöhle durchzuckte Simon eine jähe Erinnerung. Vor seinem Traum hatte er den anderen nie gesehen, und doch kannte er ihn, woher, das wusste er nicht.
Als zwei neue Personen den Raum betraten, blickte der Mann von seiner Lektüre auf. Die eine der beiden war eine alte Frau, das weiße Haar in ein schäbiges Tuch gebunden. Sie kniete vor dem Mann nieder. Er legte das Buch beiseite, erhob sich und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Nach einigen Worten, die Simon nicht hören konnte – wie schon in dem Drachentraum erschienen ihm die Gestalten, die er sah, stumm und fern –, durchquerte er das Zimmer und hockte sich neben der Begleiterin der alten Frau nieder, einem kleinen Mädchen von sieben oder acht Jahren. Sie hatte geweint. Ihre Augen waren geschwollen, und ihre Lippen zitterten vor Zorn oder Furcht. Sie wich dem Blick des Mannes aus und zupfteunruhig an ihrem rötlichen Haar herum. Auch sie war schlicht gekleidet – ein schmuckloses, dunkles Gewand –, machte aber trotz ihres aufgelösten Zustandes einen gepflegten Eindruck. Ihre Füße waren bloß.
Endlich streckte der Mann die Arme nach ihr aus. Sie zögerte, warf sich dann hinein und barg weinend das Gesicht an seiner Brust. Auch dem Mann kamen die Tränen. Er hielt die Kleine lange an sich gedrückt und streichelte ihren Rücken. Schließlich gab er sie sichtlich ungern frei und stand auf. Das Mädchen rannte aus dem Zimmer. Der Mann sah ihr nach und winkte dann der alten Frau. Ohne ein weiteres Wort streifte er einen dünnen Goldring vom Finger und gab ihn ihr. Sie nickte und umschloss ihn mit den Fingern, während er sich herunterbeugte und ihre Stirn küsste. Sie verneigte sich vor ihm, drehte sich um, als drohte auch sie die Fassung zu verlieren, und eilte hinaus.
Eine lange Minute verging. Der Mann ging zu einer mit Büchern bedeckten Truhe an der Wand, öffnete sie und holte ein in der Scheide steckendes Schwert hervor. Simon erkannte es sofort wieder. Er hatte den sparsam verzierten Griff gerade eben noch aus der Brust des Drachen ragen sehen. Der Mann hielt das Schwert vorsichtig in der Hand, ohne mehr als einen kurzen Blick darauf
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