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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verkohlt und geschmolzen.
    Das ist ja die Schmiede! Jedenfalls jetzt ist es die Schmiede. Dies hier muss die Vergangenheit sein.
    Der Drachen lag ausgestreckt auf dem Boden der Höhle. In seinen rotgoldenen Schuppen spiegelte sich das Licht der Fackel. Er war größer als ein Haus, sein Schwanz eine schier endlose Reihe fleischiger Windungen. Große Schwingen erstreckten sich von den Flanken bis zu den verlängerten Sporen hinter den Vorderklauen. Er war noch prachtvoller und schrecklicher als der Eisdrache Igjarjuk. Und er war unwiderruflich tot.
    Der Mann mit dem Speer starrte ihn an.
    »Siehst du?« , fragte der Engel. »Der Drache war tot.«
    Der Blonde kam näher und gab der leblosen Klaue einen Stoß mit dem Speer. Als sich nichts rührte, trat er zuversichtlich in die Halle aus geschmolzenem Stein.
    Unter der Brust des Drachen lag etwas Helles.
    »Es ist ein Skelett«, flüsterte Simon. »Ein menschliches Skelett.«
    »Schweig«, mahnte der Engel an seinem Ohr. »Schau hin. Es ist deine Geschichte.«
    »Was meinst du?«
    Der Speerträger bewegte sich auf den Haufen bleicher Knochen zu. Seine Finger zeichneten einen Baum in die Luft. Der Schatten seiner Hand sprang über die Wände. Noch immer langsam und verstohlen, als könne der Drache jeden Moment brüllend zum Leben erwachen, beugte er sich über den Leichnam – und sah, wie Simon, die zerfetzten Höhlen, in denen die Augen des Drachen gelegen hatten, die verdorrte, schwarzverfärbte Zunge, die aus dem klaffenden Maul hing.
    Der Mann griff nach unten und strich ehrfürchtig über den Totenkopf, der unter dem Brustbein des Drachen lag wie eine Perle aus einer zerrissenen Kette. Der Rest der Knochen war in unmittelbarer Nähe verstreut. Bei ihrem Anblick fiel Simon auf einmal Igjarjuks kochendes Blut ein, und er empfand Trauer um den Unseligen, der das Ungeheuer erschlagen und dabei selbst den Tod gefunden hatte. Denn erschlagen hatte er es. Die einzigen Knochen, die noch zusammenhingen, waren sein Unterarm und die Hand, deren Finger den Griff eines Schwertes umschlossen. Es steckte bis ans Heft im Bauch des Drachen.
    Der Speerträger starrte das seltsame Bild lange an. Endlich hob er den Kopf und sah sich mit wilden Blicken in der Höhle um. Es war, als fürchte er, beobachtet zu werden. Seine Miene war finster, die Augen glänzten wie im Fieber. In diesem Moment kam er Simon bekannt vor, aber der Nebel in seinem Kopf war noch nicht völlig gewichen; als der blonde Mann sich wieder dem Skelett zuwandte, wusste Simon nicht mehr, wer er war.
    Der Mann ließ den Speer fallen und löste mit bebender Vorsicht die Knochenhand vom Schwertgriff. Einer der Finger brach ab.
    Der Mann hielt ihn einen Augenblick in der Hand. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Dann küsste er den Knochen und versteckte ihn in seinem Hemd. Endlich hatte er den Schwertgriff freigelegt. Er legte die Fackel hin und fasste ihn mit fester Hand, stemmte den Stiefel gegen das vorspringende Brustbein des Drachen und zog. Die Muskeln an seinen Armen traten hervor, und die Sehnen am Hals spannten sich, aber das Schwert rührte sich nicht. Der Blonde ruhte sich einen Augenblick aus, spuckte in die Händeund griff nochmals zu. Endlich glitt das Schwert aus der Wunde. Es hinterließ ein enges Loch zwischen den gleißenden roten Schuppen.
    Mit weitgeöffneten Augen hielt der Mann das Schwert hoch. Zuerst kam Simon die Klinge wie eine schlichte, fast rohe Arbeit vor, aber unter dem Ruß des Drachenbluts waren die Linien klar und anmutig. Der Mann starrte sie mit unverkennbarer, fast gieriger Bewunderung an. Plötzlich senkte er die Spitze des Schwertes und warf von neuem Blicke in die Halle, als fürchte er Spione. Er hob seine Fackel auf und wollte auf den Torbogen zugehen, der aus der Höhle führte. Unterwegs blieb er stehen und betrachtete das Bein des Drachen und die Vorderklaue. Er überlegte eine Weile, kniete dann nieder und machte sich daran, die schmalste Stelle des Beins, gerade vor dem Flügelsporn, mit dem Schwert durchzusägen.
    Die Arbeit war schwer, aber der Mann jung und kräftig gebaut. Während er sägte, blickte er ab und zu scheu auf und starrte in die Schatten der großen Halle, als beobachteten ihn von dort tausend verächtliche Augen. Schweiß rann ihm von Gesicht und Gliedern. Er arbeitete wie ein Besessener, und als er das Bein halb durchgesägt hatte, sprang er plötzlich auf und fing an, mit dem Schwert darauf einzuhacken, Schlag auf Schlag, bis die Gewebestückchen

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