Der Engelsturm
zu werfen; dabei legte er den Kopf zur Seite, als lausche er auf etwas. Langsam und bedächtig schlug er einen Baum und bewegte die Lippen wie im Gebet, dann setzte er sich wieder hin. Das Schwert legte er quer über seine Knie, nahm dann sein Buch und schlug es über dem Schwert auf. Wäre das winzige Beben der Finger beim Umblättern der Seiten nicht gewesen, hätte man glauben können, er denke lediglich an einen guten Nachtschlaf. Aber Simon wusste, dass ihm etwas ganz anderes vor Augen stand.
Das Bild verschwamm und löste sich auf wie Rauch.
»Hast du gesehen? Verstehst du jetzt?« , fragte der Engel, ungeduldig wie ein Kind.
Simon kam sich vor, als betaste er einen großen Sack. Etwas war darin, und er konnte merkwürdige Ecken und verräterische Wölbungen fühlen, aber immer wenn er zu begreifen glaubte, was der Sack enthielt, versagte seine Einbildungskraft. Allzu lange war er imgrauen Nebel umhergeirrt. Das Denken fiel ihm schwer, und eigentlich war ihm alles gleichgültig.
»Ich weiß nicht Warum kannst du es mir nicht einfach sagen, Engel?«
»Weil es nicht der Weg ist. Diese Wahrheiten sind zu stark, die Mythen und Lügen, die sie umgeben, zu mächtig. Sie sind auf allen Seiten von Mauern umgürtet, die ich nicht überwinden kann, Simon. Du musst die Wahrheit sehen und selbst verstehen. Aber es war deine Geschichte.«
Seine Geschichte? Wieder grübelte Simon über die Bilder nach, aber ihr Sinn schien ihm immer mehr zu entgleiten. Wenn er sich doch erinnern könnte, wie es früher gewesen war, wenn er doch die Namen und Geschichten noch wüsste, die er gekannt hatte, bevor das Grau ihn erstickte!
»Halte an ihnen fest«, flüsterte der Engel. »Wenn du es schaffst zurückzukehren, werden dir diese Wahrheiten nützlich sein. Und nun gibt es noch ein Bild, das ich dir zeigen muss.«
»Ich bin müde. Ich will nichts mehr sehen. « Der Drang nach Ruhe und Vergessen war wieder da und riss ihn mit wie eine starke Strömung. Alles, was der Engel ihm gebracht hatte, war Verwirrung. Zurückkehren? In diese Welt der Schmerzen? Warum sollte er es überhaupt versuchen? Es war leichter, zu schlafen, sich träge und leer über nichts Gedanken zu machen. Er konnte doch einfach aufgeben, dann wäre alles ganz leicht …
»Simon!« Die Stimme des Engels hatte einen Unterton von Furcht. »Nicht! Du darfst nicht aufgeben!«
Langsam tauchten die mit grüner Patina bedeckten Züge des Engels wieder vor ihm auf. Simon hätte ihn am liebsten gar nicht beachtet, aber obwohl das Gesicht nur eine Maske aus lebloser Bronze war, lag etwas in dieser Stimme, ein Aufschrei wirklicher Not, den Simon nicht überhören konnte.
»Warum darf ich nicht ruhen?«
»Ich kann nur noch kurze Zeit bei dir bleiben, Simon. Früher konnte ich dir nie nah genug kommen. Bald muss ich dich fortstoßen, um dich zurückzuschicken, sonst wirst du hier auf ewig umherwandern müssen.«
»Und was kümmert dich das?«
»Weil ich dich liebe, Simon.« Der Engel sprach mit einer sanften Schlichtheit, die weder Verpflichtung noch Vorwurf enthielt. »Duhast mich gerettet oder es doch versucht. Und andere, die ich liebe, brauchen dich. Es besteht nur eine sehr geringe Hoffnung, dass der Sturm abgewendet werden kann, aber sie ist alles, was uns bleibt.«
Gerettet? Den Engel auf der Turmspitze gerettet? Wieder fühlte Simon, wie Erschöpfung und Verwirrung über ihm zusammenschlugen. Aber ihm blieb keine Zeit zum Grübeln.
»Dann zeig es mir, wenn du musst.«
Diesmal schien die Verwandlung des grauen Nichts in eine lebendige Erscheinung schwieriger, als sei der neue Schauplatz mühsamer zu erreichen oder als ließen die Kräfte des Engels nach. Das Erste, was Simon sah, war ein großer, runder Schatten, und lange Zeit erkannte er sonst nichts. Dann löste sich der Schatten langsam auf. Spuren von Licht zeigten sich und gaben den Blick auf eine seltsame Gestalt frei.
Selbst in der unwirklichen Unterwelt seiner Vision erfasste Simon jähe Angst. Die Gestalt, die am Rand des dunklen Kreises saß, trug eine Geweihkrone. Vor ihr stand mit der Spitze nach unten ein langes, graues Schwert, dessen Griff mit dem doppelten Stichblatt sie fest in den Händen hielt.
Der Feind! Simon kannte keine Namen mehr, aber der Gedanke kam klar und kalt. Der Unhold mit dem schwarzen Herzen, das eiskalte und zugleich brennende Gespenst, das an allem Leid der Welt schuld war. In Simon loderten Furcht und Hass so heftig auf, dass die Vision aufflackerte und zu verschwinden
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