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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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drohte.
    »Schau hin!« Die Stimme des Engels war ganz schwach. »Du musst hinschauen!«
    Aber Simon wollte nicht hinschauen. Dieses Ungeheuer, dieser Dämon des äußersten Bösen hatte sein ganzes Leben zerstört. Warum sollte er ihn auch noch betrachten?
    Um herauszufinden, wie man ihn vernichtet, machte er sich widerwillig klar. Um meinen Zorn stark zu halten. Um einen Grund zu finden, meine Qualen wieder auf mich zu nehmen.
    »Zeig ihn mir. Ich werde ihn ansehen.«
    Das Bild wurde schärfer. Simon brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass die Schwärze, die den Feind umgab, der Teich der Drei Tiefen war. Er glänzte unter seinem Schattenmantel, die Steinbilderunzerstört, das Becken selbst hell und schillernd, als sei sogar das Wasser lebendig. Vom fließenden, wechselnden Licht umspielt, saß die Gestalt auf einem Sockel, der auf einer kleinen steinernen Halbinsel mitten im Teich stand.
    Simon fasste sich ein Herz und schaute genauer hin. Was immer er auch sonst sein mochte, diese Verkörperung des Feindes war ein lebendes Wesen aus Haut, Knochen und Blut. Die langfingrigen Hände strichen rastlos über den Knauf des grauen Schwertes. Sein Gesicht lag im Schatten, aber der gebeugte Nacken und die hängenden Schultern sprachen von einer furchtbaren Last.
    Fasziniert und überrascht erkannte Simon, dass das Geweih auf dem Haupt des Feindes nicht aus Hörnern, sondern aus schlanken Zweigen bestand. Seine Krone war aus einem einzigen Reif silbrig-dunklen Holzes geschnitzt. An manchen Zweigen waren noch Blätter.
    Der Feind hob den Kopf. Sein Gesicht war sehr fremd, wie die Gesichter aller Unsterblichen, die Simon gesehen hatte – mit hohen Wangenknochen, spitzem Kinn, blass im wechselnden Licht und umrahmt von glattem, schwarzem Haar, das größtenteils in gedrehten Zöpfen herunterhing. Seine Augen waren weit geöffnet, und er starrte über das Wasser, als suchte er verzweifelt nach etwas. Ob er es entdeckte, konnte Simon nicht erkennen. Aber es war vor allem der Ausdruck in den Zügen des Gehörnten, der ihn bestürzte. Zorn lag darin, was Simon nicht überraschte, und eine unversöhnliche Entschlossenheit, die sich in den angespannten Kiefermuskeln zeigte, aber die Augen waren voller Qual. Simon hatte noch nie einen so traurigen Blick gesehen. Hinter der strengen Maske lauerte Verwüstung, eine Seelenlandschaft, in der nichts als nackte Felsen übriggeblieben waren, ein Gram, der hart geworden war wie die steinerne Erde selbst. Wenn dieses Wesen jemals wieder weinte, würden es Tränen aus Feuer und Staub sein.
    Leid. Simon erinnerte sich an den Namen des grauen Schwertes. Jingizu. So viel Leid. Eine krampfhafte, grimmige Verzweiflung packte ihn. Nie hatte er etwas so Furchtbares, so Erschütterndes gesehen wie das gequälte Gesicht des Feindes.
    Das Bild trübte sich.
    »Simon … « Die Stimme des Engels war lautlos wie ein Blatt, das über das Gras weht. »Ich muss dich zurückschicken.«
    Er war allein im nebelgrauen Nichts. »Warum hast du mir das gezeigt? Was soll es bedeuten?«
    »Geh zurück, Simon. Ich verliere dich, und du bist weit entfernt von dort, wo du sein solltest.«
    »Aber ich muss mehr wissen. Ich habe so viele Fragen.«
    »Ich habe so lange auf dich gewartet, Simon. Jetzt ruft man mich fort.«
    Er fühlte, wie der Engel ihm entglitt. Eine ganz neue Art von Furcht befiel ihn. »Engel! Wo bist du?«
    »Ich bin jetzt frei …« Ein Hauch, als streife Feder gegen Feder. »Ich habe so lange gewartet …«
    Und plötzlich, bei der letzten Berührung ihrer Stimme, erkannte er sie.
    »Leleth!« , rief er. »Leleth! Verlass mich nicht!«
    Ein Gefühl, als lächelte sie, das Bild einer Leleth, die endlich frei war und davonflog, berührte ihn und verging. Nichts anderes folgte.
    Simon hing im Leeren, ohne Richtung, ohne Sinn. Er versuchte zu schweben, wie er es mit Leleth getan hatte, aber er bewegte sich nicht. Er war verirrt im Nichts, verlorener, als er je gewesen war. Er war nur ein Fetzen Stoff, der durch Finsternis flatterte. Er war unendlich allein.
    »Hilf mir!« , schrie er.
    Nichts.
    »Hilf mir«, murmelte er. »Irgendjemand.«
    Nichts. Nichts würde sich je ändern.

23
Die zerstörte Rose

    ieder brach sich eine Welle am Schiff. Die Balken der Kajüte knarrten, und Isgrimnur fiel der leere Becher aus der Hand und schepperte zu Boden.
    »Ädon bewahr uns! Das ist ja grauenhaft!«
    Josua lächelte dünn. »Stimmt. Nur Verrückte fahren in diesem Sturm zur See.«
    »Macht keine Scherze«,

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