Der Engelsturm
bewegte, wurde deutlicher. Ein Gesicht, traurig und schön, doch ohne Leben, tauchte vor ihm auf. Etwas wie Flügel oder wogende Gewänder umwallte es, vom Grau fast nicht zu unterscheiden.
»Siehst du mich?«
»Ja.«
»Wer bin ich?«
»Du bist der Engel. Vom Turm.«
»Nein. Aber es kommt nicht darauf an.« Der Engel kam näher. Simon konnte die Verfärbungen auf der verwitterten Bronzehaut sehen. »Vermutlich ist es schon gut, dass du mich überhaupt sehen kannst. Ich habe darauf gewartet, dass du mir nah genug kamst. Hoffentlich kannst du auch wieder zurück.«
»Ich verstehe dich nicht.« Die Worte waren zu schwierig für ihn. Er wollte nur loslassen, zurück in die Sorglosigkeit, in den Schlaf treiben …
»Aber du musst verstehen, Simon. Du musst. Es gibt vieles, das ich dir zeigen muss, und mir bleibt nur wenig Zeit.«
»Zeigen?«
»Es ist anders hier. Ich kann es dir nicht erklären. Dieser Ort ist nicht wie die Welt.«
»Dieser Ort?« Er strengte sich an zu begreifen. »Welcher Ort?«
»Es ist … das Jenseits. Es gibt kein anderes Wort dafür.«
Eine vage Erinnerung stieg in ihm auf. »Die Straße der Träume?«
»Nicht ganz. Die Straße berührt nur den Rand dieser Gefilde und führt an die Grenzen des Ortes, an den ich bald gehen werde. Doch genug davon. Die Zeit ist knapp.« Der Engel schien von ihm fortzuschweben. »Folge mir.«
» Ich … ich kann nicht.«
»Du hast es früher auch gekonnt. Folge mir.«
Der Engel entfernte sich. Simon wollte nicht, dass er ging. Er war so einsam. Plötzlich war er bei dem Engel.
»Siehst du«, sagte er. »Ach, Simon, ich habe mich so lange nach diesem Ort gesehnt. Dass ich nun endlich für immer hierbleiben darf, ist wundervoll. Ich bin frei!«
Simon wusste nicht, was der Engel meinte, aber er hatte nicht die Kraft, weitere Rätsel zu lösen. »Wohin gehen wir?«
»Nicht wohin, sondern in welche Zeit. Du weißt das doch.«
Freude schien von dem Engel auszustrahlen. Wäre er eine Blume, dachte Simon, würde er in einem Fleck Sonnenlicht stehen, umsummt von Bienen. »Es war immer so furchtbar, wenn ich zurückgehen musste. Nur hier war ich glücklich. Einmal habe ich versucht, es dir zu sagen, aber du konntest mich nicht hören.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Natürlich. Du hast noch nie meine Stimme gehört – das heißt, meine eigene Stimme. Es war immer ihre.«
Auf einmal wurde Simon klar, dass sie gar nicht miteinander sprachen. Nicht wie Menschen es tun. Vielmehr schien der Engel Simon seine Gedanken zu schicken, die sich dann in Simons Kopf niederließen. Als der Engel von »ihr« sprach, jener anderen, deren Stimme Simon gehört haben sollte, nahm Simon das nicht als Wort wahr, sondern hatte das Gefühl einer beschützenden, haltenden, liebevollen, zugleich aber unbestimmt gefährlichen Weiblichkeit.
»Wer ist sie?«
»Sie ist vorausgegangen«, erklärte der Engel, als hätte Simon eine ganz andere Frage gestellt. »Bald werde ich bei ihr sein. Aber ich musste auf dich warten, Simon. Nicht, dass ich etwas dagegen einzuwenden hätte. Ich bin glücklich hier, und vor allem froh, dass ich nicht zurückmusste.« Simon empfand »zurück« als einen Ort, der den Engel gefangen hielt und ihm wehtat. »Sogar damals, als ich zum ersten Mal hierherkam, wollte ich nicht zurück … aber sie hat mich immer gezwungen.«
Bevor er weiterfragen oder auch nur entscheiden konnte, ob er in diesem seltsamen Traum überhaupt weiterfragen wollte, fand Simon sich in die Tunnel von Asu’a versetzt. Vor ihm zeigte sich ein vertrautesBild – der blonde Mann, die Fackel, der Speer, das große, glänzende Etwas gleich hinter dem Torbogen.
»Was ist das?«
»Schau hin. Es ist deine Geschichte – oder ein Teil davon.«
Der Mann mit dem Speer ging weiter. Sein ganzer Körper zitterte vor angstvoller Erwartung. Das gewaltige Untier regte sich nicht. Seine rote Klaue lag nur wenige Schritte vor den Füßen des Mannes gekrümmt am Boden.
Simon fragte sich, ob das Tier schlief. Seine Narbe, oder die Erinnerung daran, brannte.
Lauf weg, Mann , dachte er. Ein Drache ist stärker, als du ahnst. Lauf weg!
Der Speerträger tat einen vorsichtigen Schritt nach vorn und blieb stehen. Simon war plötzlich ganz nah bei ihm. Er sah in die große Halle, als blicke er durch die Augen des Goldhaarigen. Zuerst konnte er den Anblick kaum fassen.
Die Halle war riesig, mit einer Decke, die hoch über die Grenzen des Fackelscheins hinaufreichte. Gewaltige Feuer hatten die Wände
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