Der Engelsturm
geschmolzen war, ging sie barfuß. Ihr Mantel flatterte im Wind, der vom Hochhorst herunterwehte.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte sie.
Eine Sekunde zögerte Simon. Er hatte niemanden Bestimmtes erwartet, am allerwenigsten sie. Nach den Bestattungsfeierlichkeiten für Josua, Camaris, Isorn und die vielen anderen Toten, die den ganzen Tag gedauert hatten, war Binabik zu Strangyeard gegangen, um den Abend mit ihm und Tiamak zu verbringen, und hatte Simon allein und nachdenklich vor dem Zelt zurückgelassen. Miriamels Erscheinen kam ihm vor wie etwas, das er geträumt haben konnte, während er in die Flammen starrte.
»Miriamel.« Er kam ungeschickt auf die Füße. »Prinzessin. Setzt Euch … setz dich, bitte.« Er deutete auf einen Stein am Feuer.
Sie ließ sich nieder und wickelte sich eng in ihren Mantel. »Geht es dir gut?«, fragte sie nach einer Weile.
»Es geht mir …« Er stockte. »Ich weiß nicht. Es ist alles so seltsam.« Sie nickte. »Man kann kaum glauben, dass es vorbei ist … dass sie alle für immer fort sind.«
Simon regte sich unbehaglich. Er wusste nicht, ob sie von Freunden oder von Feinden sprach. »Es gibt immer noch viel zu tun. Die Menschen sind entwurzelt, die Welt steht auf dem Kopf …« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Es gibt viel zu tun.«
Miriamel beugte sich vor und hielt die Hände ans Feuer. Simon sah, wie das Licht auf ihren zarten Zügen spielte, und merkte, wie sein Herz sich hoffnungslos zusammenkrampfte. Und wenn das ganze königliche Blut der Erde in seinen Adern floss, es war wertlos, wenn sie ihn nicht liebte. Während der Zeremonie für die Gefallenen heute hatte sie ihn kein einziges Mal angesehen, den ganzen Tag lang. Die Freundschaft, die zwischen ihnen einmal bestanden hatte, schien es nicht mehr zu geben.
Es geschähe ihr recht, wenn ich mich zwingen ließe, den Thron anzunehmen. Er wandte sich ab, starrte in die Flammen und kam sich niederträchtig und gehässig vor. Aber er gehört doch von Rechts wegen ihr. Siewar Priester Johans Enkelin. Was hieß es schon, dass einer von Simons Vorfahren vor zwei Jahrhunderten König gewesen war?
»Ich habe ihn getötet, Simon«, begann Miriamel plötzlich.
»Ich habe diese weite Reise gemacht, um mit ihm zu reden, ihm zu sagen, dass ich ihn verstehe … Und stattdessen habe ich ihn umgebracht.« Es klang verzweifelt. »Ich habe ihn getötet!«
Simon suchte fieberhaft nach Worten. »Du hast uns alle gerettet, Miriamel.«
»Er war ein guter Mann, Simon. Laut und jähzornig vielleicht, aber … bevor meine Mutter …« Sie blinzelte hastig. »Mein eigener Vater!«
»Du hattest keine andere Wahl.« Beim Anblick ihrer Seelenqual tat ihm das Herz weh. »Du konntest nichts anderes tun. Du hast uns gerettet.«
»Zum Schluss hat er mich erkannt. Gott helfe mir, Simon, ich glaube, er wollte, dass ich es tat. Ich sah ihn an … er war so unglücklich. Er hatte furchtbare Schmerzen.« Sie wischte sich mit dem Mantel das Gesicht ab. »Ich will nicht weinen«, sagte sie hart. »Ich habe das Weinen so satt!«
Der Wind wurde stärker, seufzte durch das Gras.
»Und mein Onkel Josua, den ich so liebte!«, fuhr sie fort, etwas ruhiger, aber fast drängend. »Tot, wie alle anderen. Tot. Meine ganze Familie ist tot. Und der arme, gefolterte Camaris. Ach Gott, was ist das für eine Welt?« Ihre Schultern zuckten. Simon streckte den Arm aus und nahm unbeholfen ihre Hand. Er erwartete, dass sie sie wegziehen würde, aber sie tat es nicht. Sie saßen schweigend da, und nur das Feuer knisterte. »Und auch C-Cadrach«, murmelte sie dann. »O barmherzige Elysia, in gewisser Weise ist das am schlimmsten. Er wollte nur sterben, aber er wartete auf mich … auf uns. Er blieb da, trotz allem, was geschah, trotz der schrecklichen Dinge, die ich zu ihm gesagt hatte.« Sie senkte den Kopf und starrte auf die Erde. Ihre Stimme war rauh vor Schmerz. »Auf seine Weise hat er mich geliebt. Das war grausam von ihm, nicht wahr?«
Simon schüttelte den Kopf. Es gab keine Antwort darauf.
Unvermittelt sah sie mit weit geöffneten Augen zu ihm auf. »Simon … wollen wir nicht fortgehen? Wir können die Pferde nehmenund morgen früh schon ein gutes Dutzend Meilen von hier weg sein. Ich will nicht Königin werden!« Sie drückte seine Hand. »Bitte, Simon, verlass mich nicht!«
»Fortgehen? Wohin? Und warum sollte ich dich verlassen?« Simons Herz begann schneller zu schlagen. Das Denken fiel ihm schwer. Er konnte nicht glauben, dass er sie
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