Der Engelsturm
sammelte das verschmähte Essen ein und stellte etwas anderes hin, als könnte die geringfügig veränderte Anordnung des gleichen Dörrobstes und Trockenfleisches – denn nichts anderes hatte sie zu bieten – ihren umherstreifenden Grafen zurücklocken.
Wenn er heute auch nicht kommt, entschied sie, werde ich ihn suchen müssen. Er hat ja sonst keinen, der sich um ihn kümmert. Es ist meine Ädonitenpflicht.
Zutiefst besorgt trat Rachel den Rückweg in ihre Kammer an.
Isgrimnur hätte den Anblick von Binabik, der auf seiner grauen Wölfin saß wie auf einem Schlachtross und den Wanderstab wie eine Lanze hielt, unter anderen Umständen vielleicht komisch gefunden, jetzt aber nötigte er ihm nicht einmal ein Lächeln ab.
»Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass es die richtige Entscheidung ist«, meinte Josua. »Ich fürchte sehr, dass Eure Weisheit uns fehlen wird, Binabik von Yiqanuc.«
»Dann ist es umso wichtiger, dass ich meine Reise schnell beginne, weil sie dann auch umso geschwinder ihr Ende finden wird.« Der Troll kraulte Qantaqa hinter den Ohren.
»Wo ist Eure Herrin?«, fragte Isgrimnur und schaute sich um. DerMorgen graute bereits, aber der Hang war verlassen bis auf die drei Männer und die Wölfin. »Ich hätte gedacht, auch sie würde kommen, um Euch Lebewohl zu sagen.«
Binabik sah ihm nicht in die Augen, sondern starrte auf Qantaqas zottigen Hals. »Wir nahmen unseren Abschied in der Frühe des Morgens, Sisqi und ich«, antwortete er leise. »Es ist hart für sie, zu sehen, wie ich davonreite.«
Isgrimnur bereute plötzlich von Herzen alle törichten und gedankenlosen Bemerkungen, die er in seinem Leben über Trolle gemacht hatte. Sie waren klein und sonderbar, aber ganz bestimmt ebenso tapfer wie größere Menschen. Er streckte Binabik die Hand hin.
»Mögt Ihr sicher reiten«, sagte er. »Kommt bald zurück.«
Auch Josua schüttelte dem Troll die Hand. »Ich hoffe, Ihr findet Miriamel und Simon. Gelingt es Euch aber nicht, so ist das keine Schande. Wie Isgrimnur gesagt hat: Kommt so schnell wie möglich zu uns zurück, Binabik.«
»Und ich hoffe, dass in Nabban die Dinge gut für Euch ausgehen.«
»Aber wie wollt Ihr uns wiederfinden?«, fragte Josua plötzlich, und sein schmales Gesicht war sorgenvoll.
Binabik betrachtete ihn kurz und brach dann zur Überraschung des Prinzen in lautes Gelächter aus. »Wie ich ein Heer, gemischt aus Grasländern und Steinhäuslern, geführt von einem toten Helden von großem Ruhm und einem einhändigen Prinzen, wiederfinden will? Nun, ich denke, es wird keinerlei Mühe verursachen, Nachricht über Euch zu erhalten.«
Josuas Miene entspannte sich zu einem Lächeln. »Da mögt Ihr recht haben. Nun dann, lebt wohl, Binabik.« Er hob grüßend die Hand und zeigte für einen Augenblick die stumpf glänzende Handschelle, die er zum Gedenken an seine Gefangenschaft immer noch trug.
»Lebt wohl, Josua und Isgrimnur«, erwiderte der Troll. »Bitte sagt das auch den anderen in meinem Namen. Ich konnte es nicht ertragen, mich auf einmal von allen zu verabschieden.« Er beugte sich vor, um der geduldig wartenden Wölfin etwas zuzuflüstern, und sah dann noch einmal zu den beiden Männern auf. »Dies sagen wir inden Bergen: Inij koku na siqqasa min tak – ›Wenn wir einander wieder begegnen, wird es ein guter Tag sein.‹« Er grub beide Hände in Qantaqas Nackenpelz. » Hinik, Qantaqa. Such Simon. Hinik ummu!«
Die Wölfin sprang davon, den taufeuchten Hang hinauf. Binabik schwankte auf ihrem breiten Rücken, blieb aber fest sitzen. Isgrimnur und Josua schauten ihm nach, bis der seltsame Reiter und sein noch seltsameres Ross den Kamm erreicht hatten und ihrem Blick entschwanden.
»Ich fürchte, wir sehen ihn nie wieder«, seufzte Josua. »Mir ist kalt, Isgrimnur.«
Der Herzog legte dem Prinzen die Hand auf die Schulter. Auch er fühlte sich nicht besonders warm oder glücklich. »Kehren wir um. Wir müssen fast tausend Mann in Marsch setzen, bevor die Sonne über den Gipfeln steht.«
Josua nickte. »Ihr habt recht. Gehen wir.«
Sie machten kehrt und folgten ihren eigenen Spuren im nassen Gras zurück zum Lager.
4
Tausend Blätter, tausend Schatten
ie erste Woche ihrer Flucht verbrachten Miriamel und Simon im Wald. Sie kamen nur langsam und unter großen Mühen voran, aber Miriamel hatte sich lange vor ihrem Aufbruch bereits dafür entschieden, lieber Zeit zu verlieren, als sich wieder einfangen zu lassen. So kämpften sie sich, solange es hell
Weitere Kostenlose Bücher