Der Engelsturm
Ich will zurück.«
Wieder das Kratzen, hartnäckig, merkwürdig laut …
Die einstige Oberste der Kammerfrauen fuhr mit einem Ruck in die Höhe. Sie zitterte vor Kälte und Furcht. Ihr Herz raste.
Da. Da war das Geräusch wieder, ganz so, wie sie es im Traum gehört hatte. Aber jetzt war sie wach. Es waren eigenartige Töne, weniger ein Kratzen als ein hohles Scharren, weit entfernt, aber regelmäßig. Rachel setzte sich auf.
Das war kein Traum mehr. Ihr war sogar, als hätte sie schon beim Einschlafen etwas Derartiges gehört, ohne dass sie sich weiter darum gekümmert hatte. Konnten Ratten in den Wänden sein? Oder Schlimmeres? Sie richtete sich auf ihrem Strohsack auf. Das kleine Kohlenbecken mit der wenigen Glut erhellte die Kammer nur mit einem matten, roten Schimmer.
Ratten in so dicken Steinmauern? Es war möglich, aber wenig wahrscheinlich.
Aber was könnte es sonst sein, alte Närrin? Irgendetwas muss das Geräusch ja verursachen.
Rachel stand auf und näherte sich lautlos dem Becken. Von ihrem sorgfältig gehorteten Stapel nahm sie eine Handvoll Binsen und hielt das eine Ende in die Kohlen. Sobald sie brannten, hob sie die behelfsmäßige Fackel hoch.
Die Kammer, nach so vielen Wochen so vertraut, war bis auf ihre Vorräte leer. Sie bückte sich und leuchtete in die dunklen Ecken, fand jedoch nichts, das sich bewegte. Das scharrende Geräusch war etwas schwächer geworden, aber dennoch nicht zu überhören. Es schien aus der gegenüberliegenden Wand zu kommen. Rachel ging einen Schritt darauf zu und stieß sich den nackten Fuß an ihrer hölzernen Andenkenkiste, die sie an die Wand zu schieben vergessenhatte, nachdem sie sich gestern Abend den mageren Inhalt angeschaut hatte. Sie gab einen erstickten Schmerzensschrei von sich und ließ ein paar brennende Binsen fallen, nur um dann rasch zu ihrem Krug zu hinken und sie mit einer Handvoll Wasser zu löschen. Dann blieb sie auf einem Bein stehen und rieb sich die schmerzenden Zehen.
Als der Schmerz sich etwas gelegt hatte, merkte sie, dass auch das Geräusch verstummt war. Ihr überraschter Aufschrei hatte den Urheber entweder verscheucht – sehr wahrscheinlich, wenn es sich um eine Ratte oder Maus gehandelt hatte – oder ihn zumindest gewarnt, dass er gehört worden war. Den Gedanken, dass da etwas still in der Mauer hockte und nun wusste, dass sich auf der anderen Seite der Steine jemand aufhielt, wollte Rachel lieber nicht weiterdenken.
Ratten, sagte sie sich. Natürlich sind es Ratten. Sie riechen die Lebensmittel in meiner Kammer, die kleinen Satansbraten.
Doch wo immer es herkommen mochte, das Geräusch war verstummt. Rachel setzte sich auf ihren Hocker und zog sich die Schuhe an. Sie konnte jetzt ohnehin nicht mehr weiterschlafen.
Was für ein seltsamer Traum von Simon. Ist es vielleicht sein ruheloser Geist? Ich weiß, dass er von Ungeheuern ermordet wurde. Es gibt Geschichten, dass Tote keine Ruhe finden, solange ihre Mörder nicht bestraft sind. Aber ich habe schon nach besten Kräften versucht, Pryrates zu bestrafen, und man sieht ja, wie weit es mich gebracht hat. Niemand hatte einen Nutzen davon.
Der Gedanke an einen Simon, der irgendwo in einsame Finsternis verbannt war, betrübte und ängstigte sie.
Steh auf, Alte. Tu etwas Sinnvolles.
Sie beschloss, dem armen blinden Guthwulf wieder etwas zu essen hinzustellen.
Ein kurzer Besuch in der Kammer mit dem Fensterschlitz weiter oben in der Burg bestätigte, dass es schon fast Morgen war. Rachel starrte auf das dunkle Blau des Himmels und die matten Sterne und fühlte sich ein wenig getröstet.
Ich wache immer noch pünktlich auf, auch wenn ich die meiste Zeit im Finstern hause wie ein Maulwurf. Immerhin etwas.
Sie stieg wieder in ihren verborgenen Raum hinab und blieb in der Tür stehen, um auf das Scharren zu horchen. Aber in der Kammer blieb es still. Nachdem sie sowohl für den Grafen als auch für seinen kleinen Schutzgeist etwas Bekömmliches gefunden hatte, warf sie ihren dicken Mantel über und stieg die Stufen zum nächsten Treppenabsatz hinunter, wo hinter dem Wandteppich der Geheimgang begann.
Aber als sie die Stelle erreichte, wo sie gewöhnlich das Essen für Guthwulf hinlegte, bemerkte sie, dass die Speisen vom vorigen Morgen noch unberührt waren. Weder Mann noch Katze hatten sich eingefunden.
Seit wir damit angefangen haben, hat er noch nie zwei Tage hintereinander versäumt, dachte sie erschrocken. Gesegnete Rhiap, ist dem armen Kerl etwas zugestoßen?
Sie
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