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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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gewesen, als sie Leleth auf dem Sesuad’ra wiedersah. Das lebhafte Kind, das sie gekannt hatte, war verschwunden. Auch bevor sie miteinander aus der Burg geflohen waren, hatte Leleth schweigsame Phasen und vor vielen Dingen Angst gehabt. Jetzt aber war es, als wohne ein völlig fremdes Wesen hinter den Augen des kleinen Mädchens.
    Miriamel hatte sich zu erinnern versucht, ob es für die Dinge, die Geloë in Leleth entdeckt hatte, früher schon Anzeichen gegeben hatte, aber es wollte ihr lediglich einfallen, dass Leleth auch früher schon zu lebhaften, verwickelten und manchmal furchterregenden Träumen geneigt hatte. Von manchen hatte sie so viele sonderbare Einzelheiten berichtet, dass Miriamel vermutet hatte, die Kleine hätte alles erfunden.
    Als Elias seinem Vater auf den Thron gefolgt war, fand sie sich von zahllosen Menschen umgeben und doch unendlich einsam. Jeder auf dem Hochhorst schien von den leeren Formen der Macht besessen, Dingen, mit denen Miriamel schon so lange lebte, dass sie sie nicht mehr interessierten. Für sie war es, als beobachte sie ein verwirrendes, von übellaunigen Kindern gespieltes Spiel. Selbst die wenigen jungen Männer, die ihr den Hof machten – oder eher ihrem Vater, denn die meisten reizten vor allem der Reichtum und die Macht, die dem zufallen würden, dem sie ihre Hand gewährte –,waren ihr immer wie ganz fremdartige Geschöpfe vorgekommen, langweilige alte Männer im Körper von Jünglingen, verdrießliche Knaben, die sich als Erwachsene aufspielten.
    Die einzigen Menschen in ganz Meremund oder auf dem Hochhorst, die das Leben so genossen, wie es gerade kam, waren die Dienstboten. Besonders auf dem Hochhorst mit seinem Heer von Mägden, Knechten und Küchenpersonal war es, als lebte eine völlig andere Sorte Menschen Seite an Seite mit Miriamels eigenen seelenlosen Standesgenossen. Einmal, in einem Augenblick schrecklicher Traurigkeit, war ihr die große Burg plötzlich wie ein ungeheurer Friedhof vorgekommen, auf dem die knarrenden Toten über der Erde dahinwandelten, während die Lebendigen unterirdisch sangen und lachten.
    So war sie auch zuerst auf Simon und einige andere aufmerksam geworden – Jungen, die anscheinend nichts weiter sein wollten als Jungen. Anders als die Kinder der Edelleute ihres Vaters hatten sie es nicht eilig, die schnarrende, eintönige, gestelzte Sprache der Älteren anzunehmen. Sie sah, wie sie bei der Arbeit trödelten, hinter vorgehaltener Hand über die närrischen Streiche ihrer Kameraden lachten oder auf dem Gras des Angers Blindekuh spielten, und sie sehnte sich schmerzlich danach, wie sie zu sein. Ihr Leben kam ihr so einfach vor. Selbst als sie reifer und klüger wurde und begriff, dass das Dasein der Dienerschaft hart und anstrengend war, träumte sie manchmal noch davon, ihren königlichen Rang wie einen Mantel abzulegen und eine der ihren zu werden. Vor harter Arbeit hatte sie sich nie gefürchtet, aber sie hatte Angst vor der Einsamkeit.
     
    »Nein«, sagte Simon streng. »Ihr dürft mich nie so nah herankommen lassen.«
    Er bewegte ganz leicht den Fuß und drehte den Griff seines Schwertes so, dass die mit Stoff umwickelte Klinge Miriamels Schwert zur Seite stieß. Plötzlich presste er seinen Körper gegen ihren. Sein Geruch, eine Mischung aus Schweiß, Leder und verrotteten Blättern, betäubte sie. Er war so groß! Manchmal vergaß sie das. Seine jähe Nähe machte es ihr schwer, klar zu denken.
    »Ihr seid jetzt ohne Schutz«, fuhr er fort. »Wenn ich den Dolch nähme, hättet Ihr keine Ausweichmöglichkeit. Denkt daran, dass Euer Gegner fast immer eine größere Reichweite besitzen wird.«
    Anstatt ihr Schwert wieder in Stellung zu bringen, ließ sie es fallen, stemmte beide Hände gegen Simons Brust und stieß ihn fort. Er taumelte zurück und stolperte, fand dann aber das Gleichgewicht wieder.
    »Lass mich.« Miriamel drehte sich um und entfernte sich ein paar Schritte. Sie bückte sich und sammelte ein paar Äste für das Feuer auf, damit ihre zitternden Hände eine Beschäftigung hatten.
    »Was ist denn?«, erkundigte sich Simon bestürzt. »Habe ich Euch wehgetan?«
    »Nein.« Sie nahm ihren Arm voll Holz und ließ ihn in den Kreis fallen, den sie auf dem Waldboden freigescharrt hatten. »Ich habe dieses Spiel nur für eine Weile satt.«
    Kopfschüttelnd setzte sich Simon hin und fing an, die Lappen von seinem Schwert zu wickeln.
    Sie hatten ihr Lager diesmal früh aufgeschlagen, die Sonne stand noch hoch über den

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