Der Engelsturm
Baumkronen. Miriamel hatte beschlossen, morgen dem kleinen Bach, der sie schon lange begleitete, hinunter zur Flussstraße zu folgen. Der Bachlauf hatte schon fast den ganzen Tag in diese Richtung geführt. Die Flussstraße folgte dem Ymstrecca, vorbei an Stanshire und weiter zum Hasutal. Miriamel hatte sich überlegt, dass es am besten wäre, sie gegen Mitternacht zu erreichen, damit sie bis zum Morgengrauen noch ein Stück darauf weiterreiten könnten, anstatt die ganze Nacht im Wald zu bleiben und auch noch den nächsten Tag verstreichen zu lassen, um erst nachts, wenn es dunkel war, ihren Weg fortzusetzen.
Sie hatte heute zum ersten Mal seit ein paar Tagen wieder Gelegenheit gehabt, das Schwert zu benutzen, abgesehen von der ruhmlosen Aufgabe, damit das Unterholz zu zerhacken. Sie selbst war es auch gewesen, die eine Übungsstunde vor dem Abendessen vorgeschlagen hatte, sodass ihr jäher Sinneswandel Simon nur umso mehr verwirrte. Die Prinzessin war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihm zu sagen, dass es nicht seine Schuld war, und dem dunklen Gefühl, dass es sich doch so verhielt – dass er Schuld hatte,weil er ein Mann war, weil er sie gern mochte, weil er mit ihr gekommen war, obwohl sie lieber allein und unglücklich gewesen wäre.
»Kümmer dich nicht um mich, Simon«, sagte sie endlich und empfand ihre Worte als Schwäche. »Ich bin nur müde.«
Besänftigt wickelte Simon achtsam den Stoffstreifen zusammen und warf die Kugel aus staubigem Tuch in seine Satteltasche, bevor er sich zu ihr an die noch kalte Feuerstelle setzte. »Ich wollte ja auch nur, dass Ihr vorsichtig seid. Ich habe Euch schon früher gesagt, dass Ihr Euch zu weit vorbeugt.«
»Ich weiß, Simon. Du hast es gesagt.«
»Ihr dürft niemanden, der größer ist als Ihr, so dicht heranlassen.«
Miriamel wünschte im Stillen, er würde endlich aufhören. »Ja, ich weiß, Simon. Ich bin einfach müde.«
Er schien zu spüren, dass er sie wieder verärgert hatte. »Aber Ihr seid gut, Miriamel. Ihr seid stark.«
Sie nickte, jetzt ganz mit dem Feuerstein beschäftigt. In die Zunderspäne fiel ein Funke, aber es kam keine Flamme. Miriamel zog die Nase kraus und versuchte es noch einmal.
»Soll ich?«
»Nein.« Wieder schlug sie vergeblich zu. Langsam wurden ihr die Arme lahm.
Simon sah auf die Holzspäne, dann auf Miriamels Gesicht und schnell wieder zu Boden. »Wisst Ihr noch – Binabiks gelbes Pulver? Damit konnte er noch bei einem Wolkenbruch Feuer machen. Ich habe ihm dabei zugesehen, als wir auf dem Sikkihoq waren, im Schnee, im starken Wind …«
»Hier.« Miriamel stand auf und ließ Feuerstein und Stahl neben dem Zunder auf die Erde fallen. »Mach du es.« Sie ging zu ihrem Pferd und begann in den Satteltaschen zu stöbern.
Simon schien etwas antworten zu wollen, widmete sich dann aber lieber dem Feuermachen. Lange Zeit hatte er ebenso wenig Erfolg wie Miriamel. Endlich, als sie schon mit einem Tuch zurückgekommen war, angefüllt mit dem, was sie gefunden hatte, gelang es ihm, einen kleinen Funken zur Flamme anzufachen. Miriamel stand neben ihm und sah, dass sein Haar recht lang geworden war und ihm in rötlichen Locken auf die Schultern hing.
Schüchtern und ein wenig besorgt sah er zu ihr auf.
»Stimmt etwas nicht?«
Sie überhörte die Frage. »Dein Haar muss geschnitten werden. Ich werde es nach dem Essen tun.« Sie knotete das Tuch auf. »Das sind unsere beiden letzten Äpfel. Sie sind schon ein bisschen alt – ich weiß wirklich nicht, wo Fengbald sie herhatte.« Man hatte ihr erzählt, woher ein großer Teil der von Josua beschlagnahmten Lebensmittel stammte, und sie fand ein grimmiges Vergnügen daran, etwas zu essen, das für diesen eitlen Prahlhans bestimmt gewesen war. »Es ist auch noch etwas getrocknetes Hammelfleisch da, aber ansonsten sind unsere Vorräte verbraucht. Vielleicht müssen wir doch noch unser Glück mit dem Bogen versuchen.«
Simon öffnete den Mund, schloss ihn wieder und holte tief Luft. »Wir könnten die Äpfel in Blätter wickeln und in die Glut legen. Dann macht es nichts, wenn sie schon älter sind.«
»Wie du meinst.«
Miriamel lehnte sich zurück und leckte ihre Finger ab. Sie schmerzten noch etwas von der heißen Apfelschale, aber das war die Sache wert gewesen. »Shem Pferdeknecht«, bemerkte sie, »ist ein Mann von erstaunlicher Weisheit.«
Simon grinste. Sein Bart war klebrig vom Saft der Äpfel. »Es hat gut geschmeckt, aber nun sind sie alle.«
»Heute Abend
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