Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
grau, als hätte es sie nie gegeben.
    Vor ihnen klapperten plötzlich Rüstungen, und ein Schwall vonWorten in der fließenden Sithisprache ertönte. Eolair spähte durch den Dunst. »Wir halten an.« Er trieb sein Pferd an. Isorn folgte ihm, Maegwin, die den ganzen Tag schweigend im Sattel gesessen hatte, dicht dahinter.
    Tatsächlich waren die Sithi stehen geblieben und saßen jetzt so stumm auf ihren Rossen, als warteten sie auf etwas. Der Nebel dämpfte die bunten Farben ihrer Rüstungen und der stolzen Banner. Eolair ritt durch die Reihen, bis er auf Jiriki und Likimeya stieß. Sie blickten in die Ferne, aber der Graf konnte im brodelnden Nebel nichts erkennen, das ihrer Aufmerksamkeit würdig gewesen wäre.
    »Wir halten?«, fragte er.
    Likimeya drehte sich zu ihm um. »Wir haben gefunden, was wir suchten.« Ihre Züge waren versteinert, als sei ihr ganzes Gesicht zur Maske geworden.
    »Aber ich sehe nichts.« Eolair schaute zu Isorn hinüber, der die Achseln zuckte, um zu verstehen zu geben, dass es ihm nicht anders ging.
    »Ihr werdet sehen«, erwiderte Likimeya. »Wartet.«
    Ratlos klopfte Eolair seinem Pferd den Hals und fragte sich, was sie meinte. Der Wind regte sich wieder, zupfte an seinem Mantel. In den Nebel kam Bewegung, er begann zu wehen, und plötzlich hob sich etwas Dunkles aus dem vergehenden Dunst.
    Die gewaltige Vormauer von Naglimund war stark beschädigt. Überall waren Steine abgebröckelt wie Schuppen von einem verwesenden Fisch. Mittendrin, dort wo das Tor gewesen war, klaffte ein mit Geröll gefülltes Loch wie ein schlaffes, zahnloses Maul. Dahinter, durch die Nebelfäden kaum erkennbar, ragten die eckigen Steintürme von Naglimund auf, und ihre dunklen Fenster starrten sie an wie die leeren, knochigen Augenhöhlen eines Totenschädels.
    »Brynioch«, keuchte Eolair.
    »Beim Erlöser«, stammelte Isorn. Beide überlief es kalt.
    »Seht Ihr nun?«, fragte Likimeya, und Eolair glaubte einen Unterton grausiger Belustigung in ihrer Stimme zu hören. »Wir sind am Ziel.«
    »Es ist Scadach.« Maegwin war außer sich vor Entsetzen. »Das Loch im Himmel. Nun sehe ich es.«
    »Aber wo ist die Stadt Naglimund?«, fragte Eolair. »Am Fuß der Burg lag eine große Stadt!«
    »Wir sind an ihr vorbeigeritten – zumindest an ihren Ruinen«, erwiderte Jiriki. »Das wenige, das noch von ihr übrig ist, liegt begraben unter dem Schnee.«
    »Brynioch!« Eolair fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, als er jetzt die unauffälligen Haufen aus Erde und Schnee ansah, die hinter ihnen lagen, und dann wieder auf den gewaltigen Berg bröckelnder Steine starrte, vor dem sie hielten. »Reiten wir einfach hinein?«, fragte er, ohne jemanden direkt anzusprechen. Der bloße Gedanke daran war, als wolle man mit dem Kopf voran in einen schwarzen Tunnel voller Spinnen kriechen.
    »Ich werde diesen Ort nicht betreten«, erklärte Maegwin heiser. Sie war bleich geworden. Zum ersten Mal, seitdem sie der Wahn erfasst hatte, wirkte sie verängstigt. »Wenn Ihr nach Scadach geht, verlasst Ihr den Himmel und seinen Schutz. Von diesem Ort kehrt nichts und niemand zurück.«
    Eolair brachte es nicht fertig, ihr etwas Beruhigendes zu sagen. Er streckte den Arm aus und griff nach ihrer Hand. Ihre Pferde standen ruhig nebeneinander und mischten den dampfenden Atem.
    »Wir werden diesen Ort nicht betreten«, versprach Jiriki feierlich. »Noch nicht.«
    Noch während er es sagte, flammten in den Tiefen der schwarzen Turmfenster flackernde gelbe Lichter auf, als seien die, denen die leeren Augen gehörten, soeben erwacht.

    Rachel der Drache schlief unruhig. Sie lag in ihrer winzigen Kammer tief im unterirdischen Tunnelgewirr unter dem Hochhorst und träumte, sie sei wieder in ihrem alten Zimmer, dem Raum für die Kammerfrauen, der ihr so vertraut war. In ihrem Traum war sie allein und zornig, die albernen Mädchen waren wieder einmal auf und davon und nur schwer zu finden.
    Etwas kratzte an der Tür, und Rachel wusste plötzlich, dass es Simon sein musste. Doch selbst mitten im Traum dachte sie daran,dass sie schon einmal von einem solchen Geräusch getäuscht worden war. Vorsichtig und leise schlich sie zur Tür und blieb davor stehen, um auf die verstohlenen Laute draußen zu horchen.
    »Simon? Bist du das?«
    Die Stimme, die ihr Antwort gab, gehörte wirklich ihrem so lange vermissten Zögling, aber sie klang so gedehnt und dünn, als erreiche sie Rachels Ohr aus weiter Ferne.
    »Rachel, ich will nach Hause. Bitte hilf mir.

Weitere Kostenlose Bücher