Der Engelsturm
war, durch die dichten Bäume und das verfilzte Unterholz, in dem man immer wieder hängen blieb, stets begleitet von Simons unzufriedenem Gebrumm. Sie führten die Pferde mehr am Zügel, als dass sie sie ritten.
»Sei doch froh«, sagte sie ihm einmal, als sie an den Stamm einer alten Eiche gelehnt auf einer Lichtung rasteten. »Wenigstens sehen wir so ein paar Tage lang die Sonne. Wenn wir wieder aus dem Wald herauskommen, heißt es bei Nacht reiten.«
»Wenn wir nachts reiten, sehe ich wenigstens diese Dornen nicht, die mir die Haut vom Leib reißen«, erwiderte Simon mürrisch und rieb sich die zerfetzten Hosen und das zerkratzte Fleisch darunter.
Miriamel stellte fest, dass ihre Stimmung sich besserte, sobald sie etwas zu tun hatte. Das Gefühl hilfloser Angst, das sie wochenlang gequält hatte, verschwand allmählich und erlaubte es ihr, wieder klar zu denken und die Welt ringsum mit neuen Augen zu sehen … und sogar Simons Gesellschaft zu genießen. Ja, sie genoss sie wirklich. Manchmal wünschte sie sich freilich, sie fühlte sich nicht ganz so wohl bei ihm, denn sie wurde den Gedanken nicht los, dass sie ihn irgendwie hereingelegt hatte. Nicht allein, dass sie ihm nicht alle Gründe dafür genannt hatte, weshalb sie ihren Onkel Josua verlassen und zum Hochhorst reisen musste … sie hatte das Gefühl, nichtmehr unbefleckt, nicht wirklich würdig zu sein, von einem anderen Mann geliebt zu werden.
Das liegt an Aspitis, dachte sie. Es ist seine Schuld. Vor ihm war ich so rein, wie nur irgendeine Jungfrau.
Aber stimmte das wirklich? Er hatte sie nicht mit Gewalt zu etwas gezwungen. Sie hatte ihn gewähren lassen. In gewisser Weise war er ihr willkommen gewesen. Auch wenn er sich zum Schluss als Ungeheuer entpuppt hatte – die Art, wie er im Bett zu ihr gekommen war, unterschied sich nicht von der, wie sich die meisten Männer ihren Liebsten näherten. Er hatte sie nicht grob behandelt. Wenn sie etwas Falsches und Sündiges getan hatte, trug sie selbst nicht weniger Schuld daran als er.
Und was war mit Simon? Ihre Gefühle waren äußerst gemischt. Er war kein Junge mehr, sondern ein Mann, und etwas in ihr fürchtete diesen Mann, wie sie jetzt alle Männer fürchtete.
Und doch, dachte sie, hatte er etwas seltsam Unschuldiges in seinem Wesen behalten. In seinem ernsthaften Streben, das Rechte zu tun, in seinem mühsam verhehlten Kummer, wenn sie ihn kurz abfertigte, war er noch fast wie ein Kind. Das machte es für sie noch schlimmer, denn in seiner offensichtlichen Zuneigung zu ihr ahnte er nicht, wie sie wirklich war. Gerade wenn er am freundlichsten zu ihr war, sie am meisten bewunderte, zürnte sie ihm am meisten. Es kam ihr vor, als stelle er sich absichtlich blind.
Ihr war abscheulich zumute. Zum Glück schien Simon zu begreifen, dass seine aufrichtige Zuneigung sie schmerzlich berührte, sodass er in die neckenden, spöttischen Freundschaftsbekundungen zurückfiel, mit denen sie besser umgehen konnte. Wenn sie bei ihm war, ohne über sich selbst zu grübeln, fühlte sie sich gut.
Obwohl sie an den Höfen ihres Großvaters und Vaters aufgewachsen war, hatte Miriamel selten Gelegenheit gehabt, mit Jungen zusammenzukommen. König Johans Ritter waren zum großen Teil bereits verstorben oder hatten sich auf ihre über ganz Erkynland und anderswo verstreuten Güter zurückgezogen, sodass in den letzten Lebensjahren ihres Großvaters fast nur noch das Dienstpersonal am Hof des Königs lebte. Später, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte Miriamels Vater es ungern gesehen, wenn sie mit den wenigenGleichaltrigen ihre Zeit verbrachte. Die entstehende Lücke jedoch hatte er selbst nicht ausgefüllt, sondern seine Tochter stattdessen mit allen möglichen unfreundlichen alten Männern und Frauen zusammengesperrt, die ihr Vorträge über die Rituale und Verantwortlichkeiten ihrer Stellung hielten und an allem, was sie tat, etwas auszusetzen hatten. Als ihr Vater dann König wurde, war Miriamels einsame Kindheit endgültig vorbei.
Ihre kleine Magd Leleth war fast ihre einzige Gefährtin gewesen. Das kleine Mädchen hatte Miriamel vergöttert und andächtig jedem ihrer Worte gelauscht. Dafür hatte sie ihrerseits lange Geschichten von ihrem Leben mit vielen Geschwistern erzählt – sie war die Jüngste einer vielköpfigen Adelssippe –, während ihre Herrin gebannt zuhörte und sich Mühe gab, nicht auf eine Familie eifersüchtig zu sein, die sie selbst nie gehabt hatte.
Darum war es auch so schwer für sie
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