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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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stundenlang durch die Stadtbezirke San Marco und San Polo gewandert und hatte sich ihre Straßen und Brücken eingeprägt - wie er es früher, in einem anderen Leben, in West-Belfast getan hatte. Besonders genau hatte er sich die Straßen und Kanäle um die Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari und die Scuola Grande di San Rocco angesehen. Und er hatte ein Spiel mit sich selbst gespielt, indem er kreuz und quer durch San Polo geschlendert war, bis er sich absichtlich verlaufen hatte. Danach hatte er versucht, auf dem kürzesten Weg zu der Kirche zurückzukehren, und unterwegs sein Gedächtnis für Straßennamen auf die Probe gestellt. In der scuola verbrachte er ein paar Minuten in der großen Eingangshalle und gab vor, zu den riesigen Tintorettos aufzusehen, während er sich in Wirklichkeit mehr für die Lage des Treppenhauses im Hinblick auf den Haupteingang interessierte. Dann ging er in den ersten Stock hinauf, besichtigte den oberen Saal und stellte ungefähr fest, wo er während des Konzerts sitzen würde. Rossetti hatte recht: Selbst von einem der hinteren Plätze aus würde es für einen Profi ein leichtes sein, die Geigerin mit der Tanfo glio zu erschießen.
    Der Engländer sah auf seine Armbanduhr: wenige Minuten nach siebzehn Uhr. Das Konzert würde um 20 Uhr 30 beginnen.
    Bis dahin hatte er noch eine letzte Sache zu erledigen. Er zahlte, verließ das Café und ging bei herabsinkender Abenddämmerung in Richtung Canal Grande davon. Unterwegs betrat er ein Geschäft für Männermode und kaufte sich eine neue Jacke: eine Steppjacke aus schwarzem Nylonmaterial mit Cordsamtkragen.
    Solche Jacken schienen in Venedig derzeit groß in Mode zu sein; er hatte sie tagsüber zu Dutzenden gesehen.
    Nachdem er mit einem traghetto über den Canal Grande gefahren war, ging er zu Signor Rossettis Geschäft im Stadtbezirk San Marco weiter. Der Juwelier stand hinter seinem Ladentisch und wollte eben schließen. Der Engländer folgte ihm erneut die knarrende Wendeltreppe in sein Büro hinauf.
    »Ich brauche ein Boot.«
    »Das dürfte kein Problem sein. Wann soll es zur Verfügung stehen?«
    »Möglichst sofort.«
    Der Juwelier kratzte sich am Kinn. »Ich kenne einen jungen Mann… Er heißt Angelo und besitzt ein Wassertaxi. Sehr umsichtig, sehr zuverlässig.«
    »Er ist nicht der Typ, der unbequeme Fragen stellt?«
    »Überhaupt nicht. Er hat schon mehrmals vertrauliche Aufträge ausgeführt.«
    »Können Sie ihn kurzfristig erreichen?«
    »Ich denke schon, ja. Wann brauchten Sie ihn denn?«
    »Ich möchte, daß er auf dem Rio di San Polo beim Goldoni-Museum auf mich wartet.«
    »Ja, ich verstehe. Das dürfte kein Problem sein, aber für Nachtfahrten wäre ein Zuschlag zu entrichten. Das ist in Venedig so üblich. Einen Augenblick, bitte. Ich will sehen, ob ich ihn erreichen kann.«
    Rossetti suchte die Nummer aus einem in Leder gebundenen Telefonverzeichnis heraus und wählte sie. Ein kurzes Gespräch genügte, um die nötigen Vereinbarungen zu treffen. Angelo würde in spätestens einer halben Stunde am Goldoni-Museum sein und dort warten.
    »Vielleicht wär's einfacher, wenn Sie gleich bei mir zahlen würden«, schlug Rossetti vor. »Ich rechne dann mit dem Jungen ab.«
    Auch diese Transaktion wurde in Dollar abgewickelt, nachdem Rossetti den Betrag auf seinem Notizblock umgerechnet hatte. Der Engländer verließ das Geschäft und ging zu einem Restaurant in der Calle della Verona, wo er ein einfaches Abendessen aus Gemüsesuppe und Fettucine mit Pilzen zu sich nahm. Beim Essen achtete er nicht auf den in dem kleinen Restaurant herrschenden heiteren Lärm, sondern glaubte wieder, das Gespräch zu hören, das auf dem aus Emil Jacobis Wohnung entwendeten Tonband aufgezeichnet war - das Gespräch zwischen dem Schweizer Professor und Gabriel Allon über die Verfehlungen eines Mannes namens Augustus Rolfe.
    Des Vaters der Frau, die der Engländer liquidieren sollte.
    Als er wenig später seinen Espresso bestellte, bat er den Ober um ein Stück Papier. Er schrieb ein paar Worte auf den Zettel, dann steckte er ihn ein. Nach dem Essen ging er zum Canal Grande zurück und fuhr mit einem traghetto zur Scuola Grande di San Rocco hinüber.
    Der gewaltige Donnerschlag eines in der Nähe herabzuckenden Blitzes zerstörte die gelassene Ruhe in der Halle des Luna-

    Hotels Baglioni. Die Lichter wurden flackernd dunkler, erholten sich und flammten dann wieder auf. Signor Brunetti, der Chefportier, faltete die Hände und murmelte ein

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