Der Engländer
Sofa, über dessen Lehne er lässig sein rechtes Bein gehängt hatte, saß Jonathan. Er war schweigsam, langweilte sich sichtlich und machte den Eindruck eines Mannes, der bei einem Arzt auf eine Routineuntersuchung wartet, die er nicht braucht. Er war eine jüngere Version Gabriels - vielleicht von Gabriel vor Wien. »Jonathan nimmt jeden Mordauftrag ernst«, hatte Schamron gesagt, »aber er ist kein Revolverheld. Er hat ein Gewissen - genau wie Sie. Wenn diese Sache vorbei ist und alle in Sicherheit sind, sucht er sich eine hübsche Toilette, auf der er in aller Ruhe kotzen kann.«
Wie Schamron vorausgesehen hatte, fand Gabriel diesen Charakterzug Jonathans beruhigend.
Die Besprechung dauerte genau eineinviertel Stunden, aber Gabriel wußte danach nicht mehr, weshalb er auf die Zeit geachtet hatte. Er hatte beschlossen, den heutigen Probelauf im Stadtbezirk Castello unmittelbar östlich der Markuskirche und des Dogenpalasts stattfinden zu lassen. Dort hatte er in seiner Lehrzeit bei Umberto Conti gelebt, so daß er sich in dem Gewirr aus Sträßchen und Gassen bestens auskannte. Jetzt benützte er einen Hotelbleistift als Zeigestab, während er ihre für heute vorgesehene Route erläuterte und die Be wegungen seines Teams choreographierte.
Um seine Anweisungen zu übertönen, ließ Gabriel eine CD mit den Deutschen Tänzen von Mozart laufen. Dadurch schien sich Jonathans Laune zu verschlechtern. Jonathan haßte alles Deutsche. Noch mehr als die Deutschen haßte er tatsächlich nur die Schweizer. Während des Krieges hatte sein Großvater sein Vermögen und Erbstücke der Familie retten wollen, indem er seinen gesamten Besitz einem Schweizer Bankier anvertraute.
Als Jonathan fünfzig Jahre später versucht hatte, Zugang zu diesem Konto zu erhalten, hatte ein beflissener Bankangestellter
ihm mitgeteilt, die Bank brauche als erstes einen Beweis dafür, daß sein Großvater wirklich tot sei. Jonathan hatte ihm erklärt, sein Großvater sei in Treblinka ermordet worden - mit Gas aus der Produktion eines Schweizer Chemiekonzerns, war er hinzuzufügen versucht gewesen -, und obwohl die Nazis es mit ihrem Papierkram sehr genau nahmen, hätten sie leider nicht daran gedacht, einen Totenschein auszustellen. Bedaure, hatte der Bankange stellte gesagt. Kein Totenschein, kein Geld.
Nachdem Gabriel seine Anweisungen erteilt hatte, klappte er einen großen Aluminiumkoffer auf und gab jedem Angehörigen des Teams ein abhörsicheres Handy und eine 9mm-Beretta.
Sobald die Waffen weggesteckt waren, holte er Anna zu ihrer ersten Begegnung mit dem Team Giorgione aus dem Schlafzimmer herunter. Schimon und Ilana erhoben sich und applaudierten ihr gedämpft. Itzhak und Mosche, die bereits anfingen, ihre Rolle zu spielen, kommentierten den Schnitt ihrer modischen Lederstiefel. Deborah musterte sie eifersüchtig von oben bis unten. Nur Jonathan schien sich nicht für sie zu interessieren, aber das mußte man ihm nachsehen, denn Jonathan dachte nur noch an den als »der Engländer« bekannten Berufskiller.
Zehn Minuten später schlenderten Gabriel und Anna die Calle San Marco entlang. Die anderen Mitglieder des Teams waren vor ihnen aufgebrochen und hatten ihre Positionen eingenommen: Jonathan an der Vaporetto- Anlegestelle San Marco; Schimon und Ilana auf einem Schaufensterbummel in der Calle Frezzeria; Itzhak und Mosche an einem Tisch im Café Quadri am Markusplatz. Deborah, das Nesthäkchen der Gruppe, hatte den wenig beneidenswerten Auftrag, die Tauben im Schatten des Glockenturms der Markuskirche mit Popcorn zu füttern. Mit bewundernswürdiger Geduld ertrug sie, daß die Vögel sich auf ihre Schultern setzten und an ihren Haaren zupften. Sie fand sogar einen gutaussehenden carabiniere, der sie mit der Wegwerfkamera aufnahm, die sie an einem Kiosk in der Mitte des Platzes gekauft hatte.
Als Gabriel und Anna den Markusplatz betraten, fiel leichter Nieselregen wie Nebel aus einem Zerstäuber. Laut Wetterbericht sollte es morgen und übermorgen durchregnen, so daß wieder einmal Hochwassergefahr bestand. Arbeiterkolonnen errichteten ein Netzwerk aus erhöhten Holzstegen, damit der Touristenstrom weiterfließen konnte, wenn der steigende Wasserstand der Lagune den Markusplatz in einen seichten See verwandelte.
Anna trug einen dreiviertellangen Daunenmantel, der weit genug war, um die schußsichere Kevlar-Weste darunter zu verbergen. Sie hatte die Kapuze hochgeklappt und trug trotz des bewölkten Nachmittagshimmels eine
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