Der Engländer
Tonleitern, machte keine Fingerübungen, übte keinen Teil der Kompositionen, die sie heute abend vortragen würde. Zu diesem Zeitpunkt gab es nichts mehr, womit sie sich noch hätte vorbereiten können. Die Stücke waren so in ihre Gehirnzellen eingegraben, daß Anna sie nicht auswendig, sondern instinktiv spielen würde. Jetzt brachte sie einfach nur die Violine zum Klingen und ließ die Klangwellen durch ihren Körper fluten.
Nur du und ich, meine Fiedel, dachte sie dabei. Nur wir allein.
Augenblicke, in denen die Zeit stillsteht.
Sie konnte Stimmen hören, die vor der geschlossenen Tür des Salons halblaut miteinander sprachen. Aber sie legte in Gedanken einen Schalter um, und die Stimmen wurden ausgeblendet. Durch die dicken Mauern drang das Gemurmel des Publikums, das allmählich den Saal füllte. Sie legte einen weiteren Schalter um und blendete es ebenfalls aus.
Nur du und ich, meine Fiedel. Nur du und ich…
Sie dachte an den Mann auf Gabriels Photos, den als »der Engländer« bekannten Berufskiller. Es war lange, sehr lange her, daß sie das Gefühl gehabt hatte, einem Mann vertrauen zu dürfen. Wahrscheinlich hatte der Verrat ihres Vaters - die Lügen, die er ihr in bezug auf den Selbstmord ihrer Mutter erzählt hatte - ihr das Vertrauen zu allen Männern geraubt. Aber heute abend würde sie ihr Leben in Gabriel Allons Hände legen.
Ihr Vater hatte einen Plan in die Wege geleitet, um Wiedergutmachung für seine schlimmen Verfehlungen zu leisten. Er war ermordet worden, bevor er vollenden konnte, was er begonnen hatte. Gabriel würde es für ihn zu Ende bringen müssen. Und Anna würde ihm dabei auf die einzige Weise helfen, die ihr zu Gebote stand - indem sie ihre Violine spielte.
Innig und schön.
Die mystische Sphäre begann sie zu umschließen, sie einzuhüllen. Es gab keinen Killer, kein Photo ihres Vaters mit Adolf Hitler, keinen Gabriel Allon mehr. Nur noch sie und ihre Violine.
Dann wurde dezent an die Salontür geklopft. Annas Bogen hielt sofort inne.
»Fünf Minuten, Miss Rolfe.«
»Danke.«
Der Bogen glitt erneut über die Saiten. K langwogen durchfluteten ihren Körper. Die Violine schien ihr die Haut zu verbrennen. Die Sphäre umschloß sie wieder. Anna verlor alles Gefühl für Raum und Zeit. Wenig später wurde die Salontür geöffnet, und Anna schwebte den Korridor im Obergeschoß entlang. Als sie den Saal betrat, wurde sie vermutlich mit Applaus empfangen - das wußte sie nur aus Erfahrung, nicht aus irgendwelchen Eindrücken, die ihre Sinne ihr übermittelten. Sie konnte das Publikum nicht sehen, sie konnte es auch nicht hören.
Anna senkte den Kopf und wartete einen Augenblick, bevor sie ihre Guarneri hob und unters Kinn nahm. Dann setzte sie den Bogen an, zögerte kaum merklich und begann zu spielen.
Gabriel hatte sich unter Tintorettos Die Versuchung Christi postiert. Sein Blick glitt über die Reihen der Konzertbesucher hinweg. Er suchte ein Gesicht nach dem anderen ab, um vielleicht den Mann auf dem Photo zu entdecken. Aber falls der Killer im Saal war, konnte Gabriel ihn nicht entdecken.
Dann kontrollierte er die Verteilung seines Teams. Itzhak war genau gegenüber auf der anderen Seite des Konzertsaals postiert. Einige Meter von ihm entfernt stand Mosche an der zum Podium hinaufführenden Treppe. Schimon und Ilana hielten an der Rückwand des Saals Wache, und wenige Meter rechts von Gabriel stand Jona than, der die Arme verschränkt hatte, während seine dunklen Augen den Saal absuchten.
Er gestattete sich einige Sekunden lang, Anna zu beobachten.
Sie spielte den »Teufelstriller« wie von Giuseppe Tartini vorgegeben ohne Begleitung. Der erste Satz war faszinierend - die nur scheinbar einfache, ätherisch schwebende, distanzierte Melodie, die angedeuteten barocken Ausschmückungen, das wiederholte Auftreten des beunruhigenden Doppelgriffs es und g. Der Teufelsakkord.
Anna spielte mit geschlossenen Augen und leicht schwankendem Körper, als entlocke sie ihrem Instrument die Töne auch durch körperliche Anstrengung. Sie stand keine zehn Meter von ihm entfernt, aber Gabriel wußte, daß sie im Augenblick für ihn unerreichbar war. Sie gehörte jetzt ganz der Musik, und falls irgendein Band zwischen ihnen existiert hatte, war es jetzt gerissen.
Er sah Anna jetzt als Bewunderer… und vage, so erschien es ihm, auch als Restaurator. Er hatte ihr geholfen, die Wahrheit über ihren Vater zu entdecken und mit der Vergangenheit ihrer Familie ins reine zu kommen. Die
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