Der Engländer
bewegten sich auf wechselnden Kreisbahnen um Gabriel und tauchten immer wieder aus verschiedenen Richtungen auf. Allein Jonathan behielt ständig seine Position bei: fünf Schritte hinter Gabriels Rücken - wie ein Satellit auf einer stationären Umlaufbahn. Sie bewegten sich über eine Reihe von Kirchenvorplätzen nach Norden und setzten sich dann in ein kleines Café am Rand des großen Platzes vor der Kirche Santa Maria della Formosa. Gabriel und Anna nahmen an einem Tisch Platz, während Jonathan sich unter eine Gruppe von Männern an der Bar mischte. Durch die Fenster konnte Gabriel immer wieder kurze Blicke auf Mitglieder seines Teams werfen. Schimon und Ilana waren dabei, sich an einem Stand in der Platzmitte ein Eis zu kaufen. Itzhak und Mosche gaben vor, die schlichte Fassade der Kirche Santa Maria della Formosa zu bewundern. Und Deborah, deren Unternehmungslust zurückgekehrt war, spielte mit einer Gruppe italienischer Schuljungen Fußball.
Diesmal übernahm es Jonathan, die Angehörigen des Teams über ihre abhörsicheren Handys abzufragen. Als er damit fertig war, wandte er sich Gabriel zu und bildete mit den Lippen drei Wörter: Ihr seid sauber.
Am späten Abend, als die Mitglieder des Teams Giorgione nach einer Abschlußbesprechung in ihre jeweiligen Hotels zurückgekehrt waren, saß Gabriel noch in dem behaglichen Wohnzimmer von Annas Suite und starrte Photos an, die Christopher Keller zeigten. Oben im Schlafzimmer verstummte die Violine. Gabriel hörte, wie Anna sie in den Geigenkasten zurücklegte und die Schlösser zuschnappen ließ. Im nächsten Augenblick kam sie die Treppe herunter. Gabriel sammelte die Photos vom Tisch ein und steckte sie in den festen braunen Umschlag zurück. Anna ließ sich ihm gegenüber in einen Sessel fallen und zündete sich eine Zigarette an.
»Willst du ihn versuchen?« fragte Gabriel.
»Den ›Teufelstriller‹?«
»Ja.«
»Weiß ich noch nicht.«
»Was spielst du, wenn du glaubst, daß du vielleicht doch zu unsicher bist?«
»Als Ersatz spiele ich solo zwei Sonaten von Bach für Violine. Sie sind schön und auch schwierig, aber eben nicht der ›Teufelstriller‹. Die Kritiker werden sich fragen, warum ich auf ihn verzichtet habe. Sie werden darüber spekulieren, ob ich nicht doch zu früh aufs Konzertpodium zurückgekehrt bin. Das wird lustig!«
»Was du auch spielst - du wirst dein Publikum wie immer begeistern.«
Ihr Blick fiel auf den braunen Umschlag auf dem Couchtisch zwischen ihnen. »Warum hast du das getan?«
»Was getan?«
»Warum hast du die Photos von ihm versteckt, als ich die Treppe heruntergekommen bin? Warum willst du nicht, daß ich ihn sehe?«
»Mach du dir Sorge n wegen des ›Teufelstrillers‹, und ich mache mir Sorgen wegen des Mannes mit der Waffe.«
»Erzähl mir von ihm.«
»Es gibt Dinge, die du nicht zu wissen brauchst.«
»Daß er versuchen wird, mich morgen abend umzubringen, ist ziemlich wahrscheinlich. Also habe ich ein Recht darauf, etwas über ihn zu erfahren.«
Gegen diese Argumentation war Gabriel machtlos, also erzählte er alles, was er über Christopher Keller wußte.
»Ist er wirklich irgendwo dort draußen unterwegs?«
»Davon müssen wir ausgehen.«
»Interessant, nicht wahr?«
»Was findest du daran interessant?«
»Er kann seine Stimme und sein Aussehen beliebig verändern, und er ist in der irakischen Wüste unter Feuer und Blut verschwunden. Ich finde, das klingt ganz so, als ob er der Leibhaftige wäre.«
»Er ist ein Teufel.«
»Schön, ich spiele ihm also seine Sonate. Dann kannst du ihn in die Hölle zurückschicken.«
38 - VENEDIG
Am Spätnachmittag des folgenden Tages war der Engländer auf der Calle della Passion unterwegs, auf der er den hohen gotischen Campanile der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari vor sich hatte. Er schlängelte sich durch eine Gruppe von Touristen und veränderte dabei immer wieder geschickt seine Kopfhaltung, um ihren Schirmen auszuweichen, die wie mit der Flut treibende Quallen auf und ab tanzten. Auf dem Platz vor der Kirche betrat er ein Café. Er bestellte einen Cappuccino und breitete einen Stadtplan und seine Reiseführer auf dem kleinen Tisch aus. Falls jemand ihn dabei beobachtete, würde er ihn für einen gewöhnlichen Touristen halten, was dem Engländer nur recht war.
Er war seit dem frühen Morgen unterwegs. Schon kurz nach dem Frühstück hatte er sein Hotel im Stadtbezirk Santa Croce mit Stadtplan und Reiseführern in der Hand verlassen, war
Weitere Kostenlose Bücher