Der Engländer
Sonnenbrille. Gabriel war sich vage bewußt, daß Jonathan sich irgendwo hinter ihnen befand und einen aufgeschlagenen Reiseführer in den Händen hielt, während seine Augen den Markusplatz absuchten. Er blickte nach links und beobachtete, wie Schimon und Ilana unter den Arkaden vorbeischlenderten. Vor ihnen erhob sich die Markuskirche, deren große Kuppeln in den bleigrauen Himmel aufragten.
Anna hängte sich bei Gabriel ein. Das war eine ganz spontane Geste, weder zu intim noch zu distanziert. Die beiden konnten Freunde oder Kollegen sein; sie konnten ein Liebespaar sein, das gerade aus dem Bett kam. Aus der Art ihrer Berührung hätte niemand erraten können, was sie dabei empfand. Das konnte nur Gabriel - aber auch nur, weil er das leichte Zittern ihres Körpers fühlte und zugleich spürte, wie die kräftigen Finger ihrer linken Hand sich in die Muskeln und Sehnen seines Arms gruben.
Sie setzten sich im Café Florian an einen Tisch im Schutz der Arkade. Ein Streichquartett mißhandelte Vivaldi, so daß Anna aufatmete, als die Straßenmusiker weiterzogen. Schimon und Ilana hatten ihren Rundgang um den Platz beendet und gaben vor, sich für die Löwen auf der Piazzetta dei Leoncini zu interessieren. Itzhak und Mosche blieben an ihrem Tisch auf der anderen Seite des Markusplatzes, während Deborah weiter die zudringlichen Tauben fütterte. Auch Jonathan fand im Café Florian einen Tisch unter der Arkade.
Anna bestellte zweimal Kaffee. Gabriel holte sein Handy heraus und meldete sich bei allen Mitgliedern seines Teams, wobei er mit Itzhak begann und mit der frustrierten Deborah aufhörte. Dann steckte er sein Handy wieder ein, begegnete Jonathans Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Alle blieben auf ihren Posten, bis Anna ihren Kaffee getrunken hatte. Als Gabriel dann zahlte, wußte das Team, daß der zweite Akt in Kürze beginnen würde. Auch Jonathan zahlte.
Obwohl er alles von Schamrons Spesenkonto absetzen konnte, verriet seine Miene Empörung darüber, was sie hier für einen Cappuccino und eine Flasche Mineralwasser verlangten. Fünf Minuten später schlenderte das Team Giorgione paarweise über die Pagliabrücke in den Stadtbezirk Castello hinüber - Schimon und Ilana voraus, dann Itzhak und Mosche, zuletzt Gabriel und Anna. Jonathan, der Gabriel ständig dicht auf den Fersen blieb, hatte seinen Reiseführer jetzt eingesteckt und hielt statt dessen krampfhaft den Griff seiner Beretta umklammert.
Und vierzig Meter hinter ihnen allen folgte der Engländer, den hauptsächlich zwei Fragen beschäftigten: Warum ging die junge Frau, die vorhin die Tauben auf dem Markusplatz gefüttert hatte, jetzt zehn Schritte hinter Gabriel Allon? Und warum ging der Mann, der im Café Florian in Allons Nähe gesessen hatte, jetzt fünf Schritte vor ihr her?
Der Engländer verstand sich ausgezeichnet auf die Kunst, wirkungsvolle Maßnahmen gegen eine Überwachung zu treffen.
Anna Rolfe stand unter dem Schutz einer erfahrenen, professionell arbeitenden Organisation. Aber das war bei Allon zu erwarten gewesen. Der Engländer hatte ihn und seinen Dienst studiert; er wußte, wie beide dachten. Der Gabriel Allon, den der
Engländer in Tel Aviv kennengelernt hatte, hätte nie einen Spaziergang gemacht, hinter dem sich nicht irgendein Zweck verbarg. Und der Zweck des heutigen Spaziergangs war, den Engländer zu enttarnen.
Am Riva degli Schiavoni kaufte der Engländer an einem Touristenkiosk eine Ansichtskarte und beobachtete, wie Allon und Anna Rolfe im Straßengewirr des Stadtbezirks Castello verschwanden. Dann wandte er sich ab und verbrachte die folgenden zwei Stunden damit, langsam zu seinem Hotel zurückzuschlendem.
Venedig ist eine Stadt, in der die gewöhnlichen Regeln von Überwachung und Gegenüberwachung außer Kraft gesetzt sind.
Sie ist ein Virtuosenstück, das die sichere Hand eines Virtuosen verlangt. In der Stadt gibt es keine Autos, keine Busse oder Straßenbahnen. Nur an sehr wenigen Stellen lohnt es sich, einen festen Beobachtungsposten einzurichten. Es gibt Straßen und Gassen, die im Nichts enden - an einem Kanal oder in einem Innenhof, der eine Sackgasse bildet. Venedig ist eine Stadt, in der alle Vorteile auf der Seite des Verfolgten liegen.
Die Angehörigen des Teams Giorgione waren sehr gut. Sie waren von den Überwachungskünstlern des Dienstes ausgebildet worden und hatten ihre Fertigkeiten auf den Straßen Europas und des Nahen Ostens weiter verfeinert. Sie verständigten sich wortlos,
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