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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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Luxusvilla, ein durch einen Schuß ins Auge ermordeter Mann. Zumindest wäre er festgenommen und ausführlich verhört worden. Das durfte Gabriel nicht zulassen.
    Er richtete sich wieder auf und sah von dem Toten zu dem Raffael hinüber. Ein bemerkenswertes Bild, ein schöner Jüngling im Halbprofil, sinnlich beleuchtet. Gabriel vermutete, daß es entstanden war, als Raffael in Florenz gelebt und gearbeitet hatte, vermutlich zwischen 1504 und 1508. Schade, daß das mit dem Alten passiert war; es wäre ein Vergnügen gewesen, ein solches Meisterwerk zu restaurieren.
    Er ging in die Eingangshalle zurück, blieb stehen und sah zu Boden. Er hatte auf dem weißen Marmor blutige Fußabdrücke hinterlassen. Das ließ sich nicht ändern. Er hatte gelernt, unter solchen Umständen so rasch wie möglich zu verschwinden, ohne sich viel darum zu kümmern, ob er Unordnung hinterließ oder etwa Lärm machte.
    Gabriel nahm seinen Koffer mit, öffnete die Haustür und trat ins Freie. Der Regen war stärker geworden, und als er das Tor erreichte, sah er, daß auf den Natursteinplatten keine blutigen Spuren mehr zurückgeblieben waren.
    Er ging rasch davon, bis er eine größere Verkehrsader erreichte: die Krähbühlstraße. Eine Bahn der Tramlinie sechs glitt den Hügel herab auf ihn zu. Gabriel lieferte ihr ein Wettrennen zur nächsten Haltestelle, indem er schnell ging, ohne zu laufen, und sprang ohne Fahrkarte hinein.
    Die Straßenbahn fuhr ruckelnd an. Gabriel ließ sich auf einen Sitz fallen und sah nach rechts. An die Wagenwand zwischen zwei Fenstern war mit wasserfestem Filzstift ein Hakenkreuz über einen Davidsstern geschmiert. Darunter standen zwei Wörter: SCHEISS JUDEN.
    Die Straßenbahn brachte ihn direkt zum Hauptbahnhof. In der Einkaufspassage im Bahnhofsuntergeschoß kaufte er sich ein exorbitant teures Paar Bally-Stiefel. Oben in der Schalterhalle sah er auf die Anzeigetafel mit den Abfahrtszeiten. In einer Viertelstunde fuhr ein Zug nach München. In München konnte er einen Abendflug nach London erreichen, wo er direkt zu Isherwoods Haus in South Kensington fahren und ihn erwürgen würde.
    Er kaufte eine Fahrkarte erster Klasse und ging auf die Bahnhofstoilette. In einer WC-Kabine tauschte er seine Slipper gegen die neuen Stiefel. Beim Hinausgehen steckte er die alten Schuhe in einen Abfallkorb und bedeckte sie mit Papierhandtüchern.
    Als er den Bahnsteig erreichte, stand der Zug längst zum Einsteigen bereit. Er stieg in den zweiten Wagen und folgte dem Seitengang, bis er sein Abteil erreichte. Es war leer. Als der Zug kurze Zeit später langsam anfuhr, schloß Gabriel die Augen, aber er glaubte noch immer, den vor dem Porträt eines jungen Mannes liegenden Toten und die an die Wand der Straßenbahn gekritzelten Wörter zu sehen: SCHEISS JUDEN.
    Der Zug hielt wieder. Sie hatten den Bahnhof noch nicht verlassen. Draußen auf dem Gang kamen schwere Schritte näher. Dann flog Gabriels Abteiltür wie von einer Bombe aufgesprengt auf, und zwei Polizeibeamten stürmten herein.

2 - VITORIA, SPANIEN
    Tausend Kilometer weiter westlich, in der baskischen Stadt Vitoria, saß ein Engländer im kühlen Schatten der Plaza de España und trank in einem Café unter den eleganten Arkaden mit kleinen Schlucken einen Milchkaffee. Obwohl er von den Ereignissen in Zürich nichts wußte, würden sie den Gang seines wohlgeordneten Lebens bald verändern. Vorerst war seine Aufmerksamkeit auf das Bankportal auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes konzentriert.
    Er bestellte einen weiteren café con leche und zündete sich eine Zigarette an. Er trug einen Panamahut und eine Sonnenbrille. Sein Haar wies den vitalen Silberglanz eines Mannes auf, der nur vorzeitig ergraut ist. Der Farbton seines sandsteinfarbenen Popelineanzugs entsprach dem der Mehrzahl aller Gebäude in Vitoria, so daß er chamäleonartig mit seiner Umgebung verschmelzen konnte. Er schien in die Lektüre der neuesten Ausgaben von El País und El Mundo vertieft zu sein.
    Aber das war er nicht.
    Auf den blaßgelben Naturstein der Bankfassade hatte ein Graffitikünstler eine Warnung geschrieben: 
    TOURISTEN, VORSICHT! 
    IHR SEID NICHT MEHR IN SPANIEN! 
    DIES IST BASKISCHES LAND! 
    Den Engländer beunruhigte das nicht im geringsten. Sollten die Separatisten es aus irgendeinem Grund auf ihn abgesehen haben, war er sich ganz sicher, daß er sich wirkungsvoll würde verteidigen können.
    Sein Blick kehrte zum Bankportal zurück. In wenigen Minuten würde ein

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