Der entgrenzte Mensch
Prozesse finden heute selbst in Bereichen wie dem Gesundheitswesen statt, die lange Zeit als nicht »industrialisierbar« oder auch »rationalisierbar« galten (vgl. Bruns 2007; Schmeling-Kludas 2008).
Wenn Entgrenzung die Beseitigung von hinderlichen Grenzen meint, dann geht es in einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft
immer auch um eine weitgehende Ersetzung des Menschen im Produktionsprozess. Diese Form der Entgrenzung lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten. Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen haben heute weniger den Zweck, Menschen von zu harter, schmutziger oder stupider Arbeit zu entlasten und ihre Gesundheit zu schützen. Ob zugegeben oder nicht, solche Maßnahmen zielen heute in erster Linie darauf, die Grenze bei der Produktivitätssteigerung, die der arbeitende Mensch in Gestalt seiner mangelnden Leistungsfähigkeit, Fehlerhaftigkeit und Widerständigkeit darstellt, auszuschalten. Die Bereitschaft, für Automaten und Roboter, Computer, Programme und technisches Equipment Geld auszugeben, ist selbst bei höheren Kosten größer als in einen gesicherten Arbeitsplatz für einen Menschen und in eine menschenwürdigere Arbeit zu investieren. Dies lässt sich heute in allen Wirtschaftsbereichen beobachten, in der Industrie, im Dienstleistungsbereich, in Verwaltung, Bildung, Gesundheitswesen ebenso wie bei den Informationsverarbeitern und »Symbolarbeitern« der Wissensgesellschaft.
Auch wird auf allen Feldern des Wirtschaftens - im Bereich der sozialen Dienstleistungen seit Mitte der Neunziger Jahre gar mit Unterstützung des Gesetzgebers - auf dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots der Mensch weitgehend nur noch als ökonomischer Produktivitätsfaktor gesehen. So schreibt § 29 des Sozialgesetzbuches XI vor: »Die Leistungen müssen wirksam und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht übersteigen. Leistungen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, können Pflegebedürftige nicht beanspruchen, dürfen die Pflegekassen nicht bewilligen und dürfen die Leistungserbringer nicht zulasten der sozialen Pflegeversicherung bewirken.« Das Wirtschaftlichkeitsgebot führt also selbst im Pflegebereich faktisch zu einem Diktat der Ökonomisierung und sieht die Leistungserbringer als ökonomische Produktivitätsfaktoren. Alle Ansprüche, Bedürfnisse und Fähigkeiten der Leistungserbringer, die dem Wirtschaftlichkeitsgebot nicht dienlich sind, haben außen vor zu bleiben.
Zweifellos hat diese Art der Entgrenzung zahlreiche kontraproduktive Wirkungen. Zum einen werden wichtige atmosphärische, soziale, kreative, intuitive, sinnliche, empathische und persönliche Aspekte menschlicher Produktivität zugunsten einer wirtschaftlichen Produktivität ausgeschaltet. Zum anderen fängt der solcher Art seiner menschlichen Produktivität beraubte und entgrenzte Mensch an, entweder widerständig zu werden (in Gestalt von »Dienst nach Vorschrift«, Leistungsverweigerung in allen [noch] nicht kontrollierten Bereichen oder durch gesundheitliche Probleme) oder sich mit dem Ökonomisierungsdruck zu identifizieren. Er gestaltet dann seine Arbeit und Beziehungen nicht mehr gemäß seinen menschlichen Möglichkeiten und Grenzen, sondern nach Maßstäben der Wirtschaftlichkeit, das heißt technisch, funktional, effektiv und effizient. Auch spürt er sich nicht mehr verantwortlich für die Folgen seines Tuns, sondern macht eben nur noch seinen Job oder sein Projekt. Genau wie er und seine Arbeit berechnet und ausgebeutet werden, fängt auch er an zu rechnen und auszubeuten. Er funktioniert zwar, aber sein Interesse muss immer geködert werden. Und der Kollegin im Nebenzimmer schreibt er lieber eine Mail, als dass er sie direkt anspricht.
Unternehmen investieren heute riesige Summen, um dem Verlust der menschlichen Produktivität entgegenzuwirken. Sie machen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlichste Angebote für mehr Menschlichkeit im Betrieb und außerhalb von ihm - vom Sport über Familienfeiern bis zu Siestazeiten und betrieblichen Yoga- und Meditationsangeboten. Nur wenige Unternehmen allerdings sind bereit, das Ökonomisierungsgebot aufzuweichen und statt mit einem »Es muss sich in jedem Fall rechnen« auch mit dem Folgenden zufrieden zu sein: »Es sollte sich, wenn auch nicht in erster Linie, auch rechnen. Entscheidend ist aber, dass jemand seine Arbeit gern und aus eigenem Antrieb macht, etwas bewirken und ein hohes Maß an eigener Verantwortung
Weitere Kostenlose Bücher