Der entgrenzte Mensch
oft in angelernte Arbeitsverhältnisse wechseln musste.
Die Arbeiten von Daniel Bell (1973) zur postindustriellen Wissensgesellschaft zeigen einen weiteren entgrenzenden Umbruch in der Arbeitswelt an. Immer mehr Menschen sind im weitesten Sinn mit der Verarbeitung von Information und Wissen beschäftigt, für die immer weniger erworbenes Erfahrungswissen auf Grund der Berufstätigkeit benötigt wird. Das, worauf jemand bisher vor allem bauen und mit dem er »wuchern« konnte, seine berufliche Erfahrung, ist kaum noch gefragt. Stattdessen soll jemand fähig sein, neue Informationen rasch zu erfassen und umzusetzen und sich durch gezielte Aus- und Weiterbildung wissenschaftliches Wissen und technisches Know-how anzueignen, um eine spezielle wissens- und wissenschaftsbasierte Arbeit tun zu können. Die enorme Zunahme solcher Berufsfelder ist der Grund, warum man nach der »Agrargesellschaft« und der«Industriegesellschaft« heute von der »Informationsgesellschaft« spricht. Nach einer Statistik von »Eurostat« arbeiteten im Jahr 2001 in Schweden bereits 51 Prozent der Berufstätigen in forschungsintensiven Industrie-oder wissensintensiven Dienstleistungsbereichen.
Entgrenzungsvorgänge in der Arbeitswelt lassen sich vor allem anhand von Veränderungen der Arbeitsorganisation sichtbar machen. Hier ist an erster Stelle die mit der Flexibilisierung der Arbeit einhergehende zeitliche und räumliche Entgrenzung zu nennen. Mit der raumzeitlichen Entgrenzung der Arbeit kommt das über gut 200 Jahre alte Modell, dass man in die Fabrik, die Firma, ins Geschäft und also zur Arbeit geht, während das Zuhause ein von Erwerbsarbeit freier Raum ist, ins Wanken. Und auch die hergebrachten zeitlichen Strukturen werden aufgelöst: Es wird unüblicher, acht Stunden eines Tages mit Arbeit zu verbringen, während der Rest Freizeit ist, der zur Erholung von der Arbeit dient.
Mit der Marketing-Orientierung hatte Erich Fromm schon 1947 die Flexibilisierung des am Markt orientierten chamäleonartigen Menschen beschrieben (Fromm 1947, S. 47-56). Es brauchte fast 50 Jahre, bis Robert Jay Lifton (1993; vgl. Meschnig 2003) vom beliebig wandlungsfähigen »proteischen« Menschen sprach und Richard Sennett (1996) die Flexibilisierung der Arbeit und ihre Auswirkungen auf den Menschen analysierte und so schließlich die Rede von der Flexibilisierung in aller Munde kam. Die zeitliche Organisation von Arbeit war schon immer stärkeren Veränderungen unterworfen als die räumliche: vom Zwölf-Stundentag zum Acht- oder Fünf-Stundentag, von einer Wochenarbeitszeit von 60 Stunden (im Jahr 1900) über 48 Stunden (im Jahr 1950) zu 35 Stunden (im Jahr 1995 in einer Reihe von Industriezweigen), nicht zu sprechen von saisonaler Erwerbsarbeit oder der Kurzarbeit zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Mit der Ausweitung der Teilzeitarbeit und der Einführung von Kernarbeitszeiten zeigte die Entgrenzung der Arbeitszeit für die Erwerbstätigen Vorteile: Je nach Alter, familiären Verpflichtungen oder anderen Interessen und Betätigungsfeldern konnten Beruf, Familie und persönliche Wünsche besser koordiniert werden.
So positiv sich die genannten Aspekte der Flexibilisierung der Arbeitszeit im Einzelfall auch auswirken, flexiblere Arbeitszeiten werden möglich, weil man die Motiviertheit der Erwerbstätigen
als Produktivitätsressource entdeckt hat. Auch geht man davon aus, dass eine nur halbtags tätige Arbeitskraft in der kürzeren Zeit vergleichsweise mehr »Output« bringt. Das Ziel ist und bleibt die Steigerung der ökonomischen Produktivität durch eine stärkere Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Nur so wird auch plausibel, warum 2007 bei 60 Prozent der produzierenden Betriebe und bei 55 Prozent der Dienstleistungsunternehmen mit jeweils mehr als 250 Beschäftigten die Beschäftigung nach Auftragslage über Arbeitszeitkonten organisiert war (vgl. Seifert 2 009).
Den durchaus fragwürdigen »Vorteilen« einer flexibilisierten Arbeitszeit stehen gravierende Nachteile gegenüber. Um eine höhere Produktivität zu erzielen und die hohen Investitionen in Automatisierung und Rationalisierung zu kompensieren, aber auch, um den Kundenwünschen rund um die Uhr gerecht zu werden, nimmt die Schichtarbeit, nehmen Nacht-, Wochenend- und Sonntagsarbeit auf breiter Front zu - trotz der erdrückenden Daten über die gesundheitlichen Folgeschäden und über familiäre und soziale Konfliktpotenziale, die mit diesen Flexibilisierungen einhergehen. So wuchs die
Weitere Kostenlose Bücher