Der entgrenzte Mensch
Sonntagsarbeitszeit zwischen 1991 und 2007 von 17 auf fast 26 Prozent, die Nachtschichtarbeitszeit im gleichen Zeitraum von 13,4 auf 15,6 Prozent (a.a.O.).
Eine räumliche Entgrenzung der Arbeit, ein weitgehend flexibler Arbeitsplatz waren bisher vor allem in der (Geistes-)Wissenschaft möglich und bei so genannten Heimarbeiten. In der Informationsgesellschaft mit ihrem hohen Anteil an Informationsarbeiten, »Symbolarbeiten« und wissensbasierten Tätigkeiten wird durch die digitale Vernetzung eine völlig neue Dimension der Flexibilisierung des Orts der Arbeit möglich. Mobiltelefon, Laptop und ein Zugang zum Netz genügen für eine weitgehende Ortsunabhängigkeit von Erwerbsarbeit. Zwischendurch braucht es unter Umständen eine Video- oder Telefonkonferenz per Mobilfon. Der »Home-Office-Tag« aber kann auch am Strand oder während der Bahnfahrt stattfinden. So wie es den ortsunabhängigen virtuellen Arbeitsplatz gibt, gibt es auch virtuelle Unternehmen,
die alles, was eine ortsgebundene räumliche Realisierung notwendig machen würde, einfach outsourcen.
So attraktiv die Flexibilisierung des Raums von Arbeit und ein virtueller Arbeitsplatz zu sein scheinen, so sehr trügt doch dieser Schein. Zwar gibt es keine Kontrolle vor Ort mit Stechuhr und Großraumbüros mehr, dafür aber klar definierte und terminierte Projekte und Arbeitsaufträge. Der Leistungsdruck wird mit Fristen, Projekt-Berichten und Audits erzeugt. Auch wird mit aller Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass der Arbeitstag nicht acht, sondern 24 Stunden hat und dass der beginnende grippale Infekt kein Grund ist, die Arbeit früher zu beenden oder gar liegen zu lassen.
Ernst zu nehmen ist auch der Gesichtspunkt, dass der flexible Arbeitsraum und insbesondere der virtuelle Arbeitsplatz in der Regel eine Vereinzelung und Isolierung des Arbeitenden mit sich bringen. Die damit einhergehende Entgrenzung des Bedürfnisses nach einem festen, abgegrenzten Ort, an dem die Erwerbsarbeit stattfindet und an dem im Vollzug der Arbeit zahlreiche soziale Kontakte wahrgenommen werden können, berührt das fundamentale Bedürfnis des Menschen, sich bezogen und verbunden erleben zu können. Kein noch so entgrenzter Mensch kann sich dieses Bedürfnis einfach abgewöhnen.
Dass die Beschäftigungsverhältnisse nicht nur flexibilisiert, sondern zunehmend auch instabil werden, ist ein weiterer Aspekt der Entgrenzung in der Arbeitswelt. Die klassische Beschäftigungsstabilität von der Lehre bis zur Berentung (»40/40« = 40 Jahre lang 40 Stunden in der Woche) ist längst Vergangenheit. Wer heute ins Erwerbsleben eintritt, muss mit mehreren Berufswechseln sowie mit einem Wechsel des Arbeitsgebers bzw. des »Projekts« in immer kürzer werdenden Abständen rechnen, ebenso mit Phasen der Arbeitslosigkeit. Von 100 Neueinstellungen in Deutschland waren im Jahr 2001 schon 32 befristet; acht Jahre später bekamen bereits 47 von 100 neu eingestellten nur noch einen befristeten Arbeitsvertrag. Die Zunahme instabiler Beschäftigungsverhältnisse lässt sich auch am Wegfall von unbefristeten Vollzeitstellen ablesen: Hatten 1970 von 100
Erwerbstätigen noch 84 eine unbefristete Vollzeitstelle, so waren es bereits 1995 nur noch 68 und sind es gegenwärtig weniger als 60.
Nach den Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gingen 1997 etwa 23 Prozent der Erwerbstätigen einer Teilzeitbeschäftigung nach; acht Jahre später waren es bereits knapp 33 Prozent. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass viele Teilzeitjobs nur zu bekommen sind, wenn sich der Arbeitnehmer auf eine »kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit« einlässt, die Teilzeitarbeitenden also auf Bedarf hin abgerufen werden können und von den Arbeitsbedingungen her sich faktisch oft wenig von Leiharbeitern unterscheiden. Auch die Zunahme der geringfügig Beschäftigten verdeutlicht den Abbau von stabilen Beschäftigungsverhältnissen und illustriert, wie man die Arbeitslosigkeit mit »Mini-Jobs« zu umgehen versucht. Bereits 1995 lag der Anteil der geringfügig Beschäftigten bei 13 Prozent. Zwischen 2000 und 2005 zeigte dieser Sektor der Berufstätigkeit eine Wachstumsrate von 23 Prozent, während im gleichen Zeitraum die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um fünf Prozent zurückging.
ENTGRENZUNG DER ARBEITSKRAFT
Eine weitere historische Wurzel des Entgrenzungsdenkens liegt in der Entgrenzung der menschlichen Arbeitskraft durch Industrialisierungs- und Ökonomisierungsprozesse. Diese
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