Der entgrenzte Mensch
zu zahlen waren. Als im Jahr 1973 das Währungssystem von Bretton Woods zusammenbrach, wurden die Wechselkurse liberalisiert. Man erkannte, dass die festen Wechselkurse zwischen den nationalen Währungen als Schranken auf den Finanzmärkten wirkten. Mit der Aufhebung dieser Schranken wurde der Devisenmarkt dereguliert, das heißt: den auf dem Markt international agierenden privaten Finanzunternehmen überlassen.
Bereits in den Siebziger Jahren kam es unter Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich und später unter Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten von Amerika zu einer zweiten Privatisierung: Auch die Zinspolitik wurde liberalisiert und dem Markt überlassen. Vor allem durch die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) wurde in der Folgezeit die Globalisierung der deregulierten Zins- und Finanzpolitik vorangetrieben. Die Finanzmärkte nutzten die Möglichkeiten und forcierten eine weitere Entgrenzung: die Abkoppelung der Finanzmärkte von der so genannten Realwirtschaft. Die Käufe und Verkäufe auf den Finanzmärkten haben heute mit der Produktion von Waren und Dienstleistungen bzw. entsprechenden Gegenwerten kaum noch etwas zu tun. »Die täglichen Umsätze auf den internationalen Devisenmärkten sind heute etwa zehnmal so hoch wie die täglichen Umsätze des weltweiten Warenhandels, und die Währungsreserven aller Notenbanken der Welt sind genauso hoch wie die täglichen Transaktionen auf den internationalen Finanzmärkten.« (Hanzing-Bätzing/Bätzing 2005, S. 65.)
Investitionen in die Realwirtschaft, also beispielsweise eine Beteiligung an einem Stahlwerk, erweisen sich zunehmend als weniger profitabel. Warum also in die Realwirtschaft investieren, wenn die Finanzmärkte Angebote machen, mit denen sich die Grenzen realwirtschaftlicher Investitionen überwinden lassen? Anders als bei anderen Entgrenzungsvorgängen scheint es auf den Finanzmärkten
keine die Entgrenzung begleitenden und fördernden Regeln für Entscheidungen zu geben. Auf internationaler Ebene gibt es zwar Wirtschafts- und Finanzorganisationen (Weltbank, Welthandelsorganisation, Internationaler Währungsfonds usw.), doch keine politischen Instanzen, die berechtigt wären, in das globale Marktgeschehen einzugreifen. Es kam deshalb schon vor der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 zu verschiedenen, ebenfalls großen Finanzkrisen: Anfang der Achtziger Jahre war es die »Schuldenkrise« der Dritten Welt, die von Polen ihren Ausgang nahm, weil Polen für seine Schulden bei den westlichen Kreditgebern nicht mehr aufkommen konnte. Ende der Neunziger Jahre traf eine Finanzkrise vor allem die Schwellenländer in Südostasien und danach in Lateinamerika. Die Frage wird sein, ob die jüngste Krise zu einer begleitenden Regulierung der Entgrenzung führen wird.
STRUKTURWANDEL IN DER ARBEITSWELT
Ein Blick in die Literatur zeigt, wie sehr die Arbeitswelt durch Entgrenzungsvorgänge gekennzeichnet ist und dass diese Vorgänge wissenschaftlich auch reflektiert werden. Für Arbeitssoziologen »scheint Entgrenzung in der Tat eine Leittendenz des Arbeitswandels zu sein« (Mayer-Ahuja/Wolf 2005, S. 12), die bevorzugt in Gegenüberstellungen von Zuvor und Jetzt präsentiert wird: Seien früher »Unternehmensorganisation und Arbeitsstrukturen durch den hierarchischen Großbetrieb, Berufe und ›Normalarbeitsverhältnis‹ bestimmt gewesen, so charakterisieren Dezentralisierung, Vernetzung und Projektarbeit, ›portfolio work‹ und ›individueller Beruf‹ sowie ›atypische‹ Beschäftigung«
das Jetzt. »Den ›alten‹ restriktiven, ausführenden Tätigkeiten werden die ›neuen‹ kreativen und selbstorganisierten gegenübergestellt.« (A.a.O., S. 13.)
Bereits der Strukturwandel der Arbeit bringt starke Veränderungen mit sich (sämtliche Angaben gelten für Deutschland, nach Bonß 2010): Fanden 1950 noch 23 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft Arbeit, so waren es 2006 gerade noch zwei Prozent. Mindestens genauso dramatisch sind die Zahlen im industriellen Sektor. Hier arbeiten heute nur noch etwa 20 Prozent der Arbeitnehmer. Im Jahr 1950 waren es noch über 50 Prozent der Erwerbstätigen. Gleichzeitig ist die Erwerbsarbeit im Dienstleistungsbereich von etwas über 20 Prozent im Jahr 1950 auf 72 Prozent im Jahr 2006 gewachsen. Allein diese Veränderung von der Güter- zur Dienstleistungsgesellschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Erwerbstätigen in den letzten Jahrzehnten ihren erlernten Beruf verloren hat und
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