Der entgrenzte Mensch
sollen bzw. in ihrer Unterschiedlichkeit erkannt werden (vgl. Laplanche/Pontalis 1975, S. 434f.). Dies gilt selbst dann, wenn die inneren Bilder so unverzichtbar, rigide und dominant sind, dass sie sich jeder Veränderung und Neubildung widersetzen. Es kommt dann zu einer »verrückten« oder doch stark verzerrten Realitätswahrnehmung bzw. zur Ausbildung von
Halluzinationen, weil nur über die Veränderung der äußeren Realitätswahrnehmung die Übereinstimmung mit den inneren Bildern hergestellt werden kann.
Die im Wachzustand immer aktive Realitätskontrolle fragt nicht und weiß auch nicht, was die Realität ist. (Und wenn wir schlafen, nehmen wir nur unsere innere Realität wahr.) Kein Mensch ist imstande, die äußere Realität als solche zu erkennen und zu fassen. Die Realitätskontrolle nimmt aber die Wirkungen wahr, die eine bestimmte Realität auf einen Menschen hat. Sie lässt deshalb die Realität als Wirklichkeit erscheinen, indem sie die Wirkungen auf die inneren Bilder und Gefühlswahrnehmungen von Realität kontrolliert und Reaktionen in Gang setzt.
Die elektronischen Medien ermöglichen insofern eine bisher ungeahnte Entgrenzung der Realität, als sie für jeden Einzelnen unterschiedlichste Wirklichkeiten als Realität zu offerieren imstande sind. Die einzige Voraussetzung hierfür ist der Zugang zu einem elektronischen Medium.
Dass Wirklichkeit inszeniert wird, um Erfahrungen entgrenzter Realität zu machen, ist nicht neu. Wenn es darum geht, die alltägliche Realitätserfahrung (und den Realitätsdruck) zu übersteigen, kannten die Religionen (mit ihren Ritualen, Zeremonien, mit Tanz, Rausch, Trancetechniken und Sakramentalität), das Theater (so schon das griechische mit seinen großen Dramen), die höfische Gesellschaft (mit ihren kunstvollen Inszenierungen von Macht), der Mythos, das Märchen und das Epos (mit ihrer symbolischen Sprache und ihrem animistischen, magischen oder mythologischen Weltverständnis, das heute im Fantasy-Boom eine Wiederbelebung erfährt) sowie die Kunst schon immer Wege, durch die Erzeugung einer anderen Wirklichkeit die Realität zu entgrenzen. Kulturelle Produktivität hat immer auch mit der Inszenierung von Wirklichkeit zu tun und ermöglicht Entgrenzungserfahrungen.
Dass dies so ist, hat mit der nur dem Menschen eigenen Fähigkeit zu tun, sich Wirklichkeit in der Fantasie vorstellen zu können. Jede Fantasie stellt eine Inszenierung von Wirklichkeit dar
und ist ein Ausdruck unserer Fähigkeit, mit Hilfe unseres Vorstellungsvermögens Realität entgrenzen zu können. Bis auf wenige Ausnahmen sind auch die meisten Menschen grundsätzlich fähig, das Vorgestellte (die inszenierte Wirklichkeit, die entgrenzte Realität) von der faktischen und äußeren Realität (und einer entsprechenden neuronalen Realitätskonstruktion) zu unterscheiden.
Das häufig strapazierte Argument, dass Gewaltfantasien zu tatsächlicher Gewaltanwendung führten, stimmt in der Regel nicht; Ausnahmen sind Menschen, deren Realitätskontrolle auf Grund psychischer Defizite (bestimmte psychotische und Borderline-Erkrankungen und schwere narzisstische Störungen) oder durch psychoaktive Substanzen geschwächt ist. Neurobiologische Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bestätigen, dass vorgestellte, imaginierte, fantasierte Gewalttätigkeit - aber auch Inszenierungen anderer psychischer Aktivitäten wie fantasierte Liebes- oder Versöhnungsgesten (etwa im therapeutischen oder religiösen Kontext) - neuronale Reaktionen hervorrufen, die den Reaktionen eines tatsächlichen Tuns entsprechen.
Die »reine« Fantasietätigkeit zeitigt also Wirkungen (wodurch die psychoanalytische These von der Möglichkeit fantasierter »Triebtätigkeit« gestützt wird). Allerdings gibt die Tatsache der Wirkmächtigkeit von Fantasien weder Auskunft über die Qualität der Befriedigung (ob die gewalttätige Fantasie eine Reaktion auf eine akute Angst oder Ohnmachtserfahrung ist oder einem permanent gewaltbereiten Charakter entspringt), noch stützt sie die These, dass durch Fantasietätigkeiten die Realitätsprüfung geschwächt würde. Die Frage aber, welche Wirkungen von medial ausgeführten Gewalt spielen ausgehen, wird im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen fantasierter und virtueller Wirklichkeit und der Entgrenzung der Realitätsprüfung noch zu diskutieren sein. (Zum Stand der empirischen Forschung über die Wirkungen medialer Gewalt vgl. Kunczik/ Zipfel, 2004. Das Manko dieser Forschungen ist,
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