Der entgrenzte Mensch
weitem das übersteigt, was David Riesman (1950) - den Frommschen Begriff der »Marketing-Orientierung« (Fromm 1947) ins Soziologische wendend - damit einmal meinte. Eben weil wichtige innere Systeme, mit denen das Ich seine Beziehung zu sich und zur Umwelt reguliert, durch die Entgrenzung außer Kraft gesetzt werden, geht es bei der heutigen »Außenorientierung« um mehr als nur um eine Bestimmung der Identität und des Eigenen durch das, was »man« denkt, fühlt und handelt.
Bei entgrenzten Menschen orientiert sich das Ich nicht konformistisch; vielmehr wird das Sich-Orientieren selbst äußerlich. Das Regeln findet im Außen des Sichtbaren und Öffentlichen statt und hat transparent zu sein. Vor allem aber hat es - weil selbstbestimmt - ohne Fremd- und Vorherbestimmungen von welcher Seite auch immer stattzufinden: Es gibt nichts, das selbstverständlich, unantastbar, unhinterfragbar, göttlich bzw. natural gegeben oder unumstößlich wäre. Jedes und alles ist verhandelbar, so dass zu regeln so viel heißt wie zu verhandeln und auszuhandeln,
nämlich auszuhandeln, welchem Entgrenzungsstreben der Vorzug zu geben ist. Da für entgrenzte Menschen das als Freiheit empfundene, selbstbestimmte Entgrenzungsstreben der höchste Leitwert ist, erheben sie den Anspruch, dass die Regeln des Lebens und Zusammenlebens nicht nur neu, sondern immer wieder aufs Neue erfunden werden müssen.
Was im zwischenmenschlichen und familiären Bereich über regelmäßige Gespräche und Familienkonferenzen dadurch ausgehandelt wird, dass Bedürfnisse und Ansprüche erhoben und diskutiert werden und über sie abgestimmt wird, ist im gesellschaftlichen und politischen Bereich verstärkt nur durch die Ermittlung eines Bedarfs, durch demokratische Regeln und transparente Willensbildungen, über Informiertheit, Fachgutachten und Fachbeiräte sowie auf Grund einer konstruktiven Konflikt-und Kompromissbereitschaft zu erreichen. Dabei müssen die Verhandlungen vom Wunsch geleitet sein, zu einem Ergebnis zu kommen, das möglichst viele Entgrenzungswünsche berücksichtigt. Wie weit hier Anspruch und Wirklichkeit heute noch auseinanderklaffen (und im Blick auf die Übermacht wirtschaftlicher Interessen anscheinend immer mehr auseinanderklaffen), soll hier nicht ausgeführt werden.
Wenn heute allenthalben der Ruf nach Regulierungen, nach neuen Orientierungen und Werten, nach einer Ethik der Wissenschaften und der Medizin, nach Berufs- und Standesethiken und nach politischer und betrieblicher Correctness erhoben wird, dann hat dieser Bedarf an Ethik nicht nur, aber auch mit der Entbindung von verinnerlichten Wertvorstellungen und Orientierungen bei entgrenzten Menschen zu tun. Bei diesem »Setzen auf Ethik« wird meist zu wenig gesehen, dass Ethiken kein entsprechendes Verhalten der Menschen garantieren. Dies war bereits bisher so, wenn Ethik nur als rationaler Ausweis des sittlich Richtigen verstanden wurde und man dabei die subjektiven Faktoren für ihre Umsetzung vernachlässigte. Wenn in Zukunft das sittlich Richtige von solchen subjektiven Faktoren entbunden ist und immer mehr in dem von entgrezungswilligen Partnern ausgehandelten
Ergebnis erkannt wird, dann gilt zumindest theoretisch, dass sich gerade entgrenzte Menschen angesichts ihres Angewiesenseins auf äußere Regeln in ihrem faktischen Verhalten auch vermehrt an den ausgehandelten ethischen Normen orientieren.
Die theoretische Annahme scheint sich überall dort zu bestätigen, wo die äußeren Regulierungen nicht einfach nur dekretiert und verordnet werden, sondern tatsächlich das Ergebnis von Verhandlungen auf Grund demokratischer Kommunikationen und Willensbildungen sind, bei denen das Selbstbestimmungsrecht berücksichtigt wurde. Unter diesen Voraussetzungen zeigen die neuen Regeln die für entgrenzte Menschen erforderliche Plausibilität und Transparenz. Mit derart ermittelten Regulierungen lassen sich nicht nur Klassenfahrten, sportliche Wettkämpfe oder ein Open-air-Konzert regeln, sondern auch Leistungswille, Motiviertheit und Solidarität bei entgrenzten Menschen herstellen. Die allenthalben zu beobachtende »Regulierungswut« dämpft allerdings den Optimismus, dass der Selbstbestimmung der Betroffenen beim Gros der Neuregulierungen wirklich Rechnung getragen wird, und nicht vielmehr nur Suggestion und Kommunikations-Rhetorik ist.
Wie bei allen Entgrenzungen, die auf die Beseitigung oder Verleugnung von inneren psychischen Strukturen zielen, so kommt es auch bei der
Weitere Kostenlose Bücher