Der entgrenzte Mensch
Effekte sollen in den nachfolgenden Abschnitten ausführlicher dargestellt werden.
WAS TREIBT DEN ENTEIGNETEN MENSCHEN AN?
Im Vergleich zu anderen technischen Errungenschaften haben Digitalisierung, Vernetzungstechnik und elektronische Medien ganz neue Möglichkeiten eröffnet, den Menschen hinsichtlich seiner psychischen Ausstattung zu entgrenzen. Sie waren bislang unvorstellbar und sind in ihrer psychologischen Bedeutung bisher erst ansatzweise zur Kenntnis genommen worden. Anders als bei psychoaktiven Substanzen und Neuroenhancern, anders aber auch als bei den in Zukunft immer wichtiger werdenden psychopharmakologischen und chemischen Manipulationsmöglichkeiten des zentralen Nervensystems, die gezielt (und oft nur gemäß ärztlicher Verordnung) zum Einsatz kommen, ergeben sich die Entgrenzungen der Persönlichkeit aus bestimmten, gesellschaftlich geforderten und geförderten Alltagsvollzügen unter Zuhilfenahme eben dieser neuen technischen Errungenschaften.
Die Tatsache, dass Erfindungen und wissenschaftliche Erkenntnisse durch ihre technische Umsetzung und Nutzung den Menschen entgrenzen und verändern, ist dabei nicht neu. Seit es den Menschen gibt, versucht er sich und seine Gestaltungsmöglichkeiten nicht nur durch die Nutzung ihm eigener Kräfte,
sondern auch durch die Nutzung der Sonnenenergie, des Wassers, der Pflanzen- und Tierwelt usw., insbesondere aber durch die Erfindung und Nutzung von Werkzeugen zu erweitern. Mit der Entwicklung von mechanischen Werkzeugen, angetriebenen Maschinen und elektrischen und elektronischen Techniken vermochte er immer eindrucksvoller, seine ihm eigenen körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte zu entgrenzen. Die Instrumente sind zwar von ihm produziert, als Produkte von ihm sind sie ihm aber nicht mehr zueigen, sondern ihm äußerlich geworden. Sie enthalten etwas von seinen Eigenkräften, stehen dem Menschen aber gegenüber; sie sind keine Aspekte seines eigenen Vermögens mehr, sondern Aspekte von etwas Veräußerlichtem, das er haben und gebrauchen muss, um sich körperlich, psychisch und geistig entgrenzen zu können. Wer mit ihrer Hilfe Grenzen beseitigen möchte, muss deshalb nicht nur über sich, sondern auch über Maschinen und Techniken verfügen können. Und selbst, wenn er sie sich besitzmäßig zueigen macht, verwandeln sie sich nicht mehr in Eigenkräfte. Sie sind, wie Fromm (1976) formulierte, von der Existenzweise des Seins in die des Habens übergegangen.
Neben der Erfolgsgeschichte, sich mit Hilfe von Instrumenten, Maschinen und Techniken entgrenzen zu können, gibt es eine andere, scheinbar weniger eindrucksvolle Erfolgsgeschichte, nämlich die körperlichen, seelischen und geistig-intellektuellen Eigenkräfte so zu nutzen, dass die in ihnen selbst liegenden Potenzierungsmöglichkeiten voll zur Entfaltung kommen. Das Ziel einer solchen Nutzung der Eigenkräfte ist nicht die Herstellung eines Instruments, sondern das Wachstum dieser Eigenkräfte selbst. Die Methode zur Erreichung dieses Zieles ist nicht ergebnis-, sondern prozessorientiert: Eigenkräfte wachsen in dem Maße, wie sie mit Konzentration, Disziplin und Regelmäßigkeit genutzt werden. Dies weiß jeder, der sich zum Ziel gesetzt hat, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern, ein guter Pianist zu werden, über ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu verfügen, ein liebender Mensch oder ein zum Widerstand fähiger Zeitgenosse zu sein: Nur wenn die erstrebte körperliche, seelische, künstlerische,
geistige, kognitive Eigenkraft praktiziert wird und man sich darin übt , liebend oder widerständig zu sein, wird man zum Könner und verfügt man über diese Eigenkraft als Fähigkeit und Kunst. Nur so lassen sich Grenzen des Möglichen je neu überschreiten, ohne die als begrenzt erlebte Eigenkraft durch Maschinen und Techniken zu ersetzen und einer Enteignung des Menschen von seinen Eigenkräften Vorschub zu leisten.
Wer seine menschlichen Fähigkeiten und Kompetenzen steigern wollte, setzte bisher also fraglos auf das Üben seiner Eigenkräfte. Die Stärkung der Eigenkräfte war gleicherweise das Ziel von psychischer Entwicklung und Erziehung und galt als Inbegriff von Bildung. Ein körperlich, seelisch und geistig gebildeter Mensch war jemand, der es durch die Praxis seiner entsprechenden Eigenkräfte zu einer Meisterschaft und Kunst brachte. Über solche Eigenkräfte verfügen zu können, war eine unerlässliche Voraussetzung für ein gutes Selbstwerterleben und ein gelungenes
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